Signifikanten-Interaktionsanalyse (SIA)

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Ziel der Signifikanten-Interaktionsanalyse (SIA) ist es, formalisierte Werte- und Rechtfertigungsordnungen zu erstellen. Die SIA versteht sich als eine kultur- und sozialwissenschaftliche Methode zur Analyse des relationalen Zusammenspiels aller Arten von Zeichen: Materie, Wahrnehmungsinhalte, Emotionen, Sprache, Schrift werden genau dann zu Zeichen, wenn sich die Aufmerksamkeit des Bewusstseins auf sie richtet und sie somit in einen Handlungszusammenhang eingebunden werden. Er kann aus einer Handlungsaufforderung durch das Zeichen, physischen Handlungen und/oder Sprechhandlung am Zeichen und mit dem Zeichen bestehen. Das heißt, Zeichen wird alles, das Intentionalität bekommt, sodann Aktant wird und damit Handlungen oder Nicht-Handlungen zeitigt.[1] Doch was ist das Zeichen? Das Wort Zeichen dient hier als ein Gewohntes und Gebräuchliches, es ist ein Lotsenwort, das zum Signifikanten führen soll, denn es geht, wie der Name dieser Analysemethode letztlich besagt, um Signifikanten und deren Interaktionen, um deren Wirkungen und Wechselwirkungen. Zeichen werden in der SIA als eine Vielzahl von untereinander sowie aufeinander verweisenden Signifikanten definiert. Nicht wie bei Ferdinand de Saussure bestehen diese Zeichen aus Signifikat und Signifikant, sondern nur aus interagierenden Signifikanten und keineswegs sind sie wie bei Saussure lediglich hermetisch-psychische Phänomene.[2] Hier können sie auch materiell-bewusstseinsunabhängig sein, aber sie besitzen trotzdem immer auch eine psychische Seite, sonst wären sie keine Signifikanten. Das Bewusstsein schafft die Intentionalität und sie fertigt aus allem Unbedeutetem Signifikanten. Das Psychische durchdringt das Materielle und das Materielle das Psychische. Hierarchien der Signifikanten gibt es nicht. Sie sind in ihrer vielfältigen Ausprägung im sprachlichen und nichtsprachlichen Bereich hinreichend miteinander verbunden. Den theoretischen Rahmen für diese Annahmen bildet Jacques Derridas Grammatologie. Signifikate sind danach allenfalls das ewig unfertige Spiel der gegenseitig auf sich verweisenden Signifikanten.[3] Dieses Spiel wird in der SIA als die Gesamtheit der Interaktionen einzelner Signifikanten gelesen, die in ihrer Spielsystematik Grenzen analysierbar machen. Diese Grenzen lassen die Analyseobjekte als Einheit wahrnehmen. Die SIA ermöglicht es, die im Spiel enthaltenen Signifikanten-Interaktionen zu analysieren.

Doch ist es auch gerechtfertigt von Interaktionen zu sprechen, von gegenseitigen Aktionen, von Handeln miteinander? Hat ein Signifikant eine agency? Wenn etwas zum Signifikanten wird, also Intentionalität bekommt, dann wirkt die Intentionalität auf das Bewusstsein. Die Signifikantenwerdung ist die Handlung des Signifikanten, macht sie zum Aktanten. Diese noch einseitige Aktion wird zur Interaktion, sobald eine Reaktion erfolgt, die von einem Bewusstsein abhängig ist. Aber auch die bloße Spur einer Reaktion in Form eines materiellen Signifikanten zeugt von Interaktion, und lässt von ihr auf Intentionalität rückschließen. Darin offenbart sich die agency der Signifikanten.

Notwendigerweise formiert sich die Frage: Was sind das für Interaktionen zwischen den Signifikanten, die von der SIA erfasst werden können? Die Antwort ist so einfach wie schwierig: Die Interaktionen beschreiben den Umgang der Signifikanten untereinander. Jener Umgang wird in der Ableitung von physischen Handlungen metonymisch verwendet. Physische Handlungen sind immer Gestaltungen von etwas. Gestaltungen zu beschreiben bedeutet, den Umgang mit etwas zu beschreiben, den Umgang mit einem Gewordenen, das auf uns gekommen ist. Alles Leben ist gestalten, alles Leben bedeutet ständig im Alltag Entscheidungen über den Umgang mit Gewordenem zu treffen, das unsere Aufmerksamkeit zuvor weckte. Dabei ist es uns nur möglich, drei Arten von Entscheidungen zu treffen: 1. Wir können das zu Gestaltende belassen, wie es ist, also es nicht gestalten. 2. Wir können es beseitigen, überstalten und damit vernichten. 3. Wir können es anpassen, wir können das Vorgefundene/Gewordene mit unseren Vorstellungen vereinen, ohne es vollständig zu beseitigen. Diese drei Modi des Gestaltens in der Konsequenz physischer Handlungen werden für die SIA metonymisch verwendet und als sogenannte Interaktionsmodi auf das Spiel der Signifikanten übertragen. Signifikanten gestalten Signifikanten, Signifikanten interagieren mit Signifikanten.

Ein Beispiel wäre ein Gründerzeithaus, dessen Dach undicht ist und auch sonst bauliche Mängel jeglicher Art aufweist. Es sei der Signifikant 1. Nun kommt die Eigentümerin und wird sich der Mängel bewusst. Sie hat nun drei Interaktionsmodi: Sie kann ihr Haus so belassen, sie kann es abreißen und ein neues aus Stahl-Beton-Glas an dessen Stelle bauen, sie kann es aber auch renovieren, es an ihre Vorstellungen anpassen, es damit verändern und gleichzeitig doch belassen. Entscheidet sie sich beispielsweise für den Modus des Beseitigens, so lässt sie ihren Signifikanten 2, die Vorstellung des neuen Hauses aus Stahl-Beton-Glas, mit dem Signifikanten 1 beseitigend interagieren. Daraus lässt sich ein Wert ableiten, den das Gründerzeithaus (Signifikant 1) für sie hat: keinen. Sie wird ihr Handeln auch begründen müssen: Die Kosten des Erhalts des Gründerzeithauses (Signifikant 3) seien im Vergleich zu den Kosten eines Neubaus (Signifikant 4) zu hoch. Auch diese Kosten-Signifikanten lässt sie interagieren. Wieder entsteht eine Wertigkeit: Signifikant 4, die vermeinten geringen Kosten des Neubaus, interagiert beseitigend mit dem Signifikanten 3, den Kosten des Erhalts des Gründerzeithauses. Die geringeren Kosten des Neubaus besitzen einen höheren Wert, als die Kosten der Renovierung des Gründerzeithauses. Über die Werte lassen sich Rechtfertigungsordnung erstellen, die in verschiedenen Kategorien ablaufen können. Die finanzielle Kategorie dient der Rechtfertigung für die Vernichtung des Gewordenen. Die Kategorie des historischen Werts der Bausubstanz steht unter der Kategorie der Finanzen. Die Rechtfertigung des destruktiven Handelns liegt in der Pragmatik.

Nicht nur die Kosten lassen sich so formalisieren, auch die Ästhetik, die Pragmatik, die Historizität, die Authentizität. Genau darum geht es der SIA: Um das Erstellen von Werte- und Rechtfertigungsordnung durch den Umgang mit dem Gewordenen, die als reduzierte, formalisierten Aussagensysteme dargestellt werden.

Diese formalisierten Aussagen erfassen die Interaktionen zweier Signifikanten, die analytisch in einer Art Laborsituation entweder akteurs– oder diskursorientiert aufeinander in Bezug gesetzt werden. Aus den formalisierten Aussagen lassen sich Werthaltung, Wertschöpfung, Wertvernichtung, Identität, Integrität, Einzigartigkeit und Differenz von Signifikanten, aber auch Rechtfertigungsordnungen ermitteln, aufgrund derer Interaktionsentscheidungen legitimiert werden. Mit der akteursbezogenen Analyse wird deutlich, welchen Wert Gestaltende den Signifikanten zuschreiben, die sie miteinander interagieren lassen. Gestaltende lassen beispielsweise sprachliche Signifikanten interagieren und formieren dadurch einen schriftlichen Text. Andere Gestaltende lassen durch solche Interaktionen Bildwerke entstehen. – Immer wird bei der akteursbezogenen SIA das Werk und dessen Gestaltende betrachtet, also Signifikanten, die Gestaltende in ihren Vorstellungen im psychischen Raum interagieren lassen. Es werden dabei stets persönliche Werteordnungen der Gestaltenden erstellt, aus denen sich die Teilwertigkeiten ihrer Weltdeutungen analysieren lassen.

In der diskursbezogenen Analyse wird hingegen ermittelt, in welchem Verhältnis Signifikanten zu ähnlichen Signifikanten innerhalb ihres Diskurses stehen und welche Spezifika sie einzigartig machen. Das können beispielsweise Bauelemente in Architekturen sein, die Säulenhalle des Pantheons in Rom und die Villa Rotonda bei Vicenza von Andrea Palladio und die Glyptothek von Leo von Klenze in München. Die verschiedenen Säulenhallen ließen sich als Spiel mehrere Signifikanten sehen, die sich in ihrem gegenwärtigen Nebeneinander analysieren und ihre Wertigkeiten herausarbeiten lassen und zwar unabhängig von ihren Gestaltern. – Immer werde bei der diskursbezogenen SIA nur das Verhältnis von Werken, also deren Signifikanten, untereinander betrachtet, ohne auf die Gestaltenden einzugehen. Es interessieren dabei nur die Signifikanten, wie sie untereinander interagieren, nicht wie ein Mensch sie in seinen Vorstellungen interagieren hat lassen.

Materie wird in der SIA eine herausragende Stellung zugeschrieben. Sie ist der Bezugsrahmen menschlichen Handelns und Kommunizierens, über ihre Gegenstände wird verhandelt, wird prozessiert, sie werden diskursiv ausgehandelt, sie werden taxiert und haben immer den Charakter normierend-manifester Ideale, die in den Diskurs hineinwirken und aus dem Diskurs auf sie zurückwirken. Sie sind in ihrer Idealität fixe Bezugspunkte der Zuschreibungen, über die verhandelt wird. Ideale Argumente liefert die Materie, mit denen sie diskursiv konstituiert werden, gleichzeitig werden sie durch den Diskurs und durch dessen Zuschreibungen neu konstituiert. Und doch bleiben sie immer normierend-idealer Zustand und Fixstern aller Aushandlungsprozesse. Materie versteht die SIA folglich als einen idealen Signifikanten, der die Rahmenbedingungen der Kommunikation, der Diskurse und der physischen Handlungen und der Sprechhandlungen ergibt. Da Körper, die selbst Materie sind, sich in der Materie bewegen, in der Materie bewegt werden und diese Bewegungen gesellschaftlich verhandelt werden, sodann aus diesen Verhandlungen sich wiederum die Materie neu konstituiert, werden alle Arten von Signifikanten als hinreichend miteinander verknüpft verstanden. Es lässt sich folglich Materie nicht einfach ohne Sprache denken, die Sprache aber auch niemals ohne Materie, da es ohne dingliche Zeichen keine sprachlichen geben kann, gleichzeitig aber auch umgekehrt gilt: keine für den Lebensvollzug verwendbaren dinglichen Zeichen ohne wie auch immer geartete sprachliche. Sie befinden sich auf einer Ebene der Zeichen, die den Lebensvollzug in der Dingwelt, der gesellschaftlichen Konstitution der Wirklichkeit und die Konstitutionen der Selbstreflexion ermöglichen. Wegen der hinreichenden Bedingungen, können auch bewusstseinsunabhängige Signifikanten der Dingwelt im sprachlichen Signifikantenbereich analysiert werden, wenn es valide Hinweise auf eine bestehende oder bestandene relationale Bindung gibt.

Daraus ergibt sich die analytische Vorgehensweise der SIA. Da nichtsprachliche Signifikanten nicht analysiert werden können – ohne Sprache keine Analyse – müssen sie versprachlicht werden. Da alle Signifikanten, wie hier angenommen und argumentiert, hinreichend durch gegenseitige Verweise miteinander verknüpft sind, lassen sich alle nichtsprachlichen Signifikanten in ihrem sprachlichen Verweisungsspektrum analysieren. Das heißt, nichtsprachliche Signifikanten müssen mit sprachlichen Signifikanten aufgeweitet werden. Das bedeutet, es bedarf einer Art dichter Beschreibung, wie Clifford Geertz sie in die Ethnologie eingeführt hat oder Erwin Panofsky sie bereits zuvor in den 1950er Jahren in der Kunstgeschichte etabliert hatte.[4] Dieser Aufweitung folgt eine Reduktion. Die für die Argumentation wichtigen Signifikanten-Interaktionen werden aus der dichten Beschreibung der Signifikantenaufweitung extrahiert und in formalisierte Signifikanten-Interaktionen übertragen. Mit diesen formalisierten Aussagen entstehen formalisierte Werteordnung und daraus abgeleitet Rechtfertigungsordnungen, die für weiterführende Fragestellungen genutzt werden können, deren Erkenntnisziele in Oberbegriffen wie Integrität, Identität, Authentizität, Konstitution von Naturverhältnisse, gesellschaftlichen Verhältnissen oder auch Gewalt liegen.

So ergibt sich folgender Gesamtablauf einer Signifikanten-Interaktionsanalyse:

  1. Auswahl des(r) Objekt(e) der Analyse
  2. Begründung der Auswahl
  3. Im Falle nichtsprachlicher Signifikanten muss eine Signifikantenaufweitung erfolgen, sollte das Analyseobjekt ein schriftlicher Text sein, so ist diese Aufweitung nicht notwendig, denn das Analyseobjekt liegt in sprachlicher Form vor
  4. Extraktion der Signifikanten-Interaktionen
  5. Formalisierung der extrahierten Signifikanten-Interaktionen
  6. Erstellen von Werte- und Rechtfertigungsordnung

[1]                Der hier verwendete Begriff von Intentionalität verbindet den von Clemens von Brentano, der die Materie einschloss, und Edmund Husserl, der die Materie in seinem Intentionalitätskonzept ausschloss.

[2]                Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. v. Charles Bally, Berlin 1967.

[3]                Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a. M. 1996..

[4]                Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 51997; Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006.


Ausführlich über die SIA:

Passagen Philosophie
Der Umgang mit Gewordenem. Signifikanten-Interaktionsanalyse

Stefan Lindl

2017. Ca. 112 Seiten., 12,8 x 20,8 cm. Brosch.  € 12,90, ISBN 978-3-7092- 0292-0

Wie gehen wir mit Gewordenem um, wie bedingt das Gewordene unser Handeln? Wie interagieren das Gewordene und wir? Das sind grundlegende Fragen unseres Alltags, die in diesem Buch zum Prinzip einer kulturwissenschaftlichen Methodeder Signifikanten-Interaktionsanalyse – erhoben werden.

Die Analyseobjekte der Signifikanten-Interaktionsanalyse (SIA) werden als Formationen verstanden, die aus materiellen, perzeptiven, emotionalen, sprachlichen Signifikanten bestehen. Signifikanten verweisen aufeinander und bedingen sich relational, so dass für sich stehende, eigentlich bedeutungslose Signifikanten in ihrem relationalen Verbund Aussagekraft entfalten. Jede Aussage beruht auf einer Interaktion mehrerer Signifikanten. Jeder Signifikant wird als potentieller Aktant verstanden. Mit der SIA lassen sich die Interaktionen zwischen Signifikanten auf formalisierte Aussagen reduzieren. Dies geschieht mittels dreier Interaktionsmodi – Belassen, Anpassen oder Beseitigen –, die aus dem Umgang mit Gewordenem abgeleitet werden. Die formalisierten Aussagen können Werthaltung, Wertschöpfung, Wertvernichtung, Identität, Integrität, Einzigartigkeit und Differenz von Signifikanten erfassen.


* Zum Titelbild der Tomaten: In Lehrveranstaltungen um das Jahr 2011, in denen die SIA vorgestellt, angewendet und diskutiert wurde, verwendete ich das Bild der Tomaten und ihrer Verarbeitungsmöglichkeiten als Metonymie für die SIA. Die Tomaten wurden zum  Symbol der SIA.