Leitbild „Authentische Stadt“
Kulturelle Nachhaltigkeit und urbane Resilienz
Wir werden die innovative und nachhaltige Nutzung von Baudenkmälern und architektonischen Stätten unterstützen, mit dem Ziel der Wertschöpfung durch respektvolle Wiederherstellung und Anpassung.
Wir werden geplante Stadterweiterungen und -verdichtungen fördern und dabei die Erneuerung, Wiederbelebung und Sanierung städtischer Gebiete priorisieren, soweit angemessen, einschließlich der Sanierung von Slums und informellen Siedlungen
New Urban Agenda, Habitat III
Das Leitbild der Authentischen Stadt beruht auf einem integrierten Stadtentwicklungsverfahren sozialer Konstruktion. Während die Bauwirtschaft plant, simuliert, gräbt, verkippt, Schalungsbretter montiert, Armierungen biegt, Beton gießt, Abfall produziert, um die Wirklichkeit dinghaft voranzubringen und eine Haptik der Werte zu schöpfen, baut die geisteswissenschaftliche Baugemeinschaft in den Gehirnen einer Gesellschaft auf den Brachen des Unbewusste an einem urbanen Raum der Signifikanten, der Wissensformationen, der Zeitdimensionierungen und -schichtungen. Sie baut: die Authentische Stadt.
Die Grundthese des Leitbilds Authentische Stadt lautet: Die Steigerung von historischen Werten und die daraus entstehende Authentizität eines urbanen Raums wirkt sich wertschöpfend in vielerlei Hinsicht aus: ästhetisch, emotional, ökonomisch, ökologisch. Das Leitbild ist eine Antwort auf Forderungen der Leipzig-Charta, der UN-Resolution 70/1 und der New Urban Agenda. In zukünftigen Stadtentwicklungsprozessen kann das Leitbild der Authentischen Stadt und die entwickelten Werkzeuge fallspezifische Antworten auf diese Forderungen liefern.
Der Grundsatz der Authentischen Stadt: Weiterbauen statt Neubauen. Wenn der Erhalt von Bestand aus bautechnischen oder ökonomischen oder anderer Gründe nicht möglich ist, werden Bestands-Strukturen in neuer Gestaltung weiterentwickelt, d. h. den Ort, die Zeit, das Wissen, die Ästhetik und überzeitliche Ideen für die historische Wertschöpfung genutzt werden. Damit werde soziale und ästhetische Gewohnheiten nicht grundlegend gestört.
Wird das Leitbild der Authentischen Stadt obendrein von partizipativen Prozessen begleitet, lassen sich grundlegende Widerstände aus der Stadtbevölkerung vermeiden.
Allgemeines zur Entstehung der „Authentischen Stadt“
Das Leitbild „Authentische Stadt“ beruht auf einem für die Drucklegung von der Stadt Wien geförderten Projekt. Die Publikation erfolgt im Wiener Passagen Verlag: „Die authentische Stadt. Urbane Resilienz und Denkmalkult, Wien 2020.“ Das Forschungsprojekt entwickelte sich in der Folge der Habilitationsschrift „Architekturen des Authentischen“ (2016) in den Jahren 2017-2020. Ausschlaggebend war eine Anfrage des Historischen Vereins Memmingen bezüglich eines Vortrags zu einer Stadtviertelentwicklung in Memmingen am 1. März 2018.
Normative Grundlagen der „Authentischen Stadt“
Die normativen Grundlagen des Leitbilds der Authentischen Stadt finden sich in der Leipzig Charta, der UN Resolution 70/1 und der New Urban Agenda (BMI, NUA Text, deutsch) . Diese drei Dokumente fordern kulturelle Nachhaltigkeit, also den Erhalt von Kulturerbe. Es sei wesentlicher Bestandteil gesellschaftlicher Identität.
Leipzig-Charta
Die Qualitäten von öffentlichen Räumen, urbanen Kulturlandschaften und von Architektur und Städtebau spielen für die konkreten Lebensbedingungen der Stadtbewohner eine zentrale Rolle. Als weiche Standortfaktoren sind sie darüber hinaus bedeutend für Unternehmen der Wissensökonomie, für qualifizierte und kreative Arbeitskräfte und für den Tourismus. Deshalb muss das Zusammenwirken von Architektur, Infrastruktur- und Stadtplanung mit dem Ziel intensiviert werden, attraktive, nutzerorientierte öffentliche Räume mit hohem baukulturellen Niveau zu schaffen.
Baukultur ist in einem umfassenden Sinne zu verstehen, als Gesamtheit aller die Qualität des Planens und Bauens beeinflussenden kulturellen, ökonomischen, technischen, sozialen und ökologischen Aspekte. […] Baukultur ist eine Notwendigkeit für die Stadt als Ganzes und deren Umgebung.
Dies gilt insbesondere für die Bewahrung des baukulturellen Erbes. Historische Gebäude, öffentliche Räume und deren städtische und architektonische Werte müssen erhalten bleiben.
Ein großes Potenzial für eine Steigerung der Energieeffizienz innerhalb der EU und somit für den Klimaschutz liegt in höheren Anforderungen an neue und bereits bestehende Wohngebäude, insbesondere in Plattenbausiedlungen sowie alten Gebäuden mit schlechter Bausubstanz.
UN-Resolution 70/1
34. Wir sind uns dessen bewusst, dass eine nachhaltige Stadtentwicklung und ein nachhaltiges Stadtmanagement von entscheidender Bedeutung für die Lebensqualität unserer Bevölkerung sind. […] Wir werden darauf hinarbeiten, die Auswirkungen der Städte auf das globale Klimasystem so gering wie möglich zu halten.
Ziel 12.b Instrumente zur Beobachtung der Auswirkungen eines nachhaltigen Tourismus, der Arbeitsplätze schafft und die lokale Kultur und lokale Produkte fördert, auf die nachhaltige Entwicklung entwickeln und anwenden
New Urban Agenda – Habitat III
10. Mit der Neuen Urbanen Agenda erkennen wir an, dass Kultur und kulturelle Vielfalt Quellen der Bereicherung für die Menschheit sind und maßgeblich zur nachhaltigen Entwicklung von Städten, menschlichen Siedlungen und der Bürgerschaft beitragen, indem sie sie befähigen, eine aktive und einzigartige Rolle in Entwicklungsinitiativen zu spielen. Ferner erkennen wir mit der Neuen Urbanen Agenda an, dass Kultur bei der Förderung und Umsetzung neuer nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster berücksichtigt werden soll, die zur verantwortungsvollen Nutzung von Ressourcen beitragen und den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels entgegenwirken.
26. Wir verpflichten uns ferner, Kultur und die Achtung der Vielfalt und der Gleichheit als Grundelemente einer Humanisierung unserer Städte und menschlichen Siedlungen zu fördern.
38. Wir verpflichten uns zur nachhaltigen Nutzung des materiellen und immateriellen Natur- und Kulturerbes in Städten und menschlichen Siedlungen, soweit angemessen, durch eine integrierte Stadt- und Raumpolitik und ausreichende Investitionen auf nationaler, subnationaler und kommunaler Ebene, mit dem Ziel, die kulturellen Infrastrukturen und Stätten, Museen, indigenen Kulturen und Sprachen sowie traditionelles Wissen und die Künste zu schützen und zu fördern, unter Hervorhebung ihrer Rolle bei der Sanierung und Neubelebung städtischer Gebiete und bei der Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe und des bürgerschaftlichen Engagements.
97. Wir werden geplante Stadterweiterungen und -verdichtungen fördern und dabei die Erneuerung, Wiederbelebung und Sanierung städtischer Gebiete priorisieren, soweit angemessen, einschließlich der Sanierung von Slums und informellen Siedlungen, Gebäude und öffentliche Räume von hoher Qualität bereitstellen, integrierte und partizipative Konzepte fördern, die alle relevanten Interessenträger und die Bevölkerung einschließen, und eine räumliche und sozioökonomische Segregation und Gentrifizierung vermeiden, bei gleichzeitiger Bewahrung des kulturellen Erbes und der Verhinderung und Eindämmung städtischer Zersiedelung.
124. Wir werden die Kultur zu einer vorrangigen Komponente städtischer Pläne und Strategien machen, wenn wir Planungsinstrumente, einschließlich Masterplänen, Leitlinien für Flächennutzung, Bauvorschriften, Leitlinien für Küstenmanagement und strategischer Entwicklungskonzepte, beschließen, die eine Vielfalt materieller und immaterieller Kulturgüter und -landschaften bewahren und vor den potenziell schädlichen Auswirkungen der Stadtentwicklung schützen werden.
125. Wir werden die effektive Nutzung des kulturellen Erbes für die nachhaltige Stadtentwicklung fördern und erkennen seine Rolle bei der Förderung von Teilhabe und Verantwortlichkeit an. Wir werden die innovative und nachhaltige Nutzung von Baudenkmälern und architektonischen Stätten unterstützen, mit dem Ziel der Wertschöpfung durch respektvolle Wiederherstellung und Anpassung.
Erzeugung historischen Bewusstseins
Das Leitbild „Authentische Stadt“ tritt in integrierten Stadtentwicklungsprozessen für den Erhalt materiellen und vor allem auch sozial konstruierten immateriellen Baubestands ein. Klimaschutz, Resilienz, Erinnerung, Denkmalkult sollen sich gemeinsam ökonomisch befördern durch die Erzeugung von Authentizität. Sie wird bedingt durch historische Werte. Historische Werte müssen gemacht werden. Sie zu schöpfen bedeutet, bestehende, oft unbewusste historische Strukturen in eine soziale Konstruktion zu überführen, die das Besondere eines Ortes hervorkehrt. Ziel: Unverkennbar, einzigartig, nicht reproduzierbar ist die authentische Stadt mit einem hohen historischen Identifikationspotenzial. Dabei liegt explizit der Schwerpunkt der Authentischen Stadt nicht auf der Materie des Bauerbes. Die originale Materie wird als eines von mehreren Parametern des Authentischen verstanden. So haben das Wissen, der Ort, die Zeit, die Ästhetik sowie überzeitliche Idee neben der Materie des Baubestands einen großen Anteil an der Authentizität einer Stadt. Mit ihnen lassen sich historische Werte schöpfen, die zugleich ökonomische Werte des Urbanen sind. Denn die soziale Konstruktion, also Erzählungen über eine Stadt oder ein Stadtviertel, heben hervor, schaffen Bedeutung, lassen Einzigartigkeit und Besonderheit erkennen. Sei diese Einzigartigkeit und Besonderheit auch noch so sehr in den alltäglichen Lebensvollzug eingeschrieben. Die ehemalige Konservenfabrik, die Spinnerei, die Maschinenhalle, die Kaserne, ein Versandzentrum sind die üblichen Beispiele, mit denen eine Konversion vom Gewerbebau zum Wohnbau einen besonderen historischen Wert bekommt. Kurzum: Wenn wir etwas zu erzählen haben, bekommt das, worüber wir erzählen, einen Nimbus, den Nimbus des Historisch-Wertvollen, ein Nimbus der Authentizität. Darin liegt das Grundprinzip der Authentischen Stadt: Das Historische eines Ortes hervorheben, es bewahren. Im Forschungsprojekt, das zu dem Leitbild der Authentischen Stadt führte, wurden Techniken entwickelt, mit denen genau dieses Bewahren über den materiellen Bereich hinaus möglich wird.
Klimaschutz
Das ist nur möglich, wenn auf einer Ebene materiell, formal oder strukturell Bestand weiterentwickelt wird. Neugestaltung, die alle Verbindungen zum Bestand kappt, schließt das Grundprinzip der Authentischen Stadt aus. Genau darin trifft sich das Leitbild mit dem Klimaschutz, wenn auch historische Materie erhalten wird: Je weniger abgerissen wird, desto weniger Gesamtemissionen und desto geringer wird die graue Energie der Neugestaltung.
Resilienz
Soziale Konstruktion des Historischen eines weiterentwickelten Bestands führt wohl nicht nur zu einem harten Faktor der Resilienz: Einerseits sind urbane Räume vulnerabel – bedingt durch den Klimawandel und der dadurch entstehenden Wärmeentwicklung im urbanen Raum. Verminderung der CO2-Emissionen sind ein Akt der Resilienz, gegen die städtische Vulnerabilität vorzugehen. Aber es gibt darüber hinaus noch einen ästhetischen und deswegen weichen Faktor der Resilienz. Diese weichen Faktoren sind noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht. Soziale Konstruktion des Historischen ermöglicht eine Verortung in Raum und Zeit. Sie geben den Bewohnern eines Stadtviertels mit Geschichte einen Rahmen der Identität, narrative Bezugspunkte. Ökonomisch lässt sich das ablesen in den Immobilienangeboten: Wenn eine Geschichte erzählt werden kann, wird sie erzählt. Narrationen steigern die Attraktivität einer Immobilie und damit auch ihren ökonomischen Wert. Touristen besuchen aufgrund von Narrationen eine Stadt. Soziale Konstruktion ist – so die These des Forschungsprojekt, die noch weiterverfolgt werden muss – ein weicher, aber wichtiger ästhetischer Resilienzfaktor via Identität, um dieses Wort zu bemühen. Anders gesagt: Geborgenheit, Wohlbefinden entsteht mit positiven Geschichten. Geschichten machen Orte und stellen persönliche Beziehungen her. Neubauten ohne Geschichten sind Orte der Leere, die nur von ihrer oberflächlichen Ästhetik atmosphärisch wirken können. Bewohner sind auf sich selbst zurückgeworfen, ohne in einem äußeren Narrationsverband zu stehen, der Orientierung in Raum und Zeit ermöglichte. Ohne soziale Konstruktion kein besonderer, einzigartig urbaner Raum.
Welchen Beitrag für die Stadtentwicklung leistet das Leitbild „Authentische Stadt“?
- Zwei Seiten des Kulturerbes – Kulturerbe, beispielsweise Baubestand, hat zwei Komponenten: eine materielle und eine immaterielle, eine dinghafte, wie Architekturen, und eine sozial konstruierte, die Narrationen über diese Architekturen, Ereignisse und Handlungen in und an ihnen. Weitergabe, also Reproduktion, von sozial konstruierten Narrationen ist eine Notwendigkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens. Richard Sennett unterscheidet zwischen Ville und Cité. Ville ist die materielle Seite der Stadt, Cité ist deren soziale Konstruktion. Beide machen eine Stadt zu dem, was sie ist.
- Kulturerbe erhalten – Die Authentische Stadt tritt in Stadtentwicklungsprozessen für den Erhalt materiellen und sozial konstruierten immateriellen Baubestands ein.
- Weiterbauen, nicht neu bauen – Dieser Erhalt von Baubestand steht auf der normativen Basis der Leipzig Charta, der UN Resolution 70/1 und der New Urban Agenda, die alle kulturelle Nachhaltigkeit, also den Erhalt von Kulturerbe fordern. Es ist wesentlicher Bestandteil gesellschaftlicher Identität. Es gibt aber auch Argumente, die den Klimaschutz betreffen: Je mehr Baubestand für Stadtentwicklungsprozesse verwendet wird, desto geringer ist die graue Energie einer Stadtentwicklung. (z. B. graue Energie eines Neubaus = Energieaufwand für den Bestand + Abriss des Bestands + Neubau)
- Erinnerung – Die Authentische Stadt ermöglicht historische Wertschöpfung als einen Bestandteil der Gestaltung in der Stadtentwicklung. Es sollen durch das bauliche Zeichen (Bestand oder Neubau) erinnernde Erzählungen ausgelöst werde, die Geschichte präsent machen. Sie werden in den jeweiligen Gegenwarten repliziert, ausgelöst von Zeichen (baulichen, schriftlichen multimedialen – korrekt: gemeint sind Signifikanten).
- Historische Dimensionierung der Gegenwart – die gegenwärtige, sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit ist langweilig, weil eindimensional, wenn sie keine historischen Dimensionen hat. Erst Narrationen schenken der sinnlichen Gegenwart ihren Reichtum. Er liegt nicht in der Materie, er findet sich in der sozialen Konstruktion, die von Materie (materiellen Signifikanten) getriggert wird.
- Vergangenheit in Gegenwart – Die Authentische Stadt zielt damit in ihrem Schutzgedanken vor allem auf die soziale Konstruktion, deren Dimensionen meist nicht berücksichtigt werden. Die Vergangenheit soll ein Teil des gegenwärtigen Lebensvollzugs als Narration sein.
- Einzigartigkeit durch Kulturerbe – Authentizität wird durch Kulturerbe erzeugt. Sie schafft historisch-kulturelle, aber auch handfeste ökonomische Werte. Die authentische Stadt, die aus Materie und Konstruktion besteht, macht den urbanen Raum wertvoll und ihr bautechnischer Grundsatz: „Weiterbauen, statt neu bauen“ wirkt gegen die urbane Vulnerabilität des Klimawandels, stützt urbane Resilienz auf ästhetischer, aber auch physischer Ebene.
Leitbild authentische Stadt
Unverkennbar, einzigartig, nicht reproduzierbar ist die authentische Stadt mit einem hohen historischen Identifikationspotenzial. Sie besteht aus zwei Komponenten, dem historischen materiellen Baubestand und seinen vielen sozialen Konstruktionen. Sie enthalten Geschichten, Erzählungen, Anekdoten vom historischen Wandel des Baubestands. Es ließe sich sagen, Baubestand verfügt über eine materielle und eine sozial konstruierte Komponente. Wie wichtig letztere für die materielle ist, kann nicht genug betont werden. Sie verleihen der Stadt ihre Eigenschaft der Einzigartigkeit und Unverkennbarkeit. Dinge und Wissen machen die Stadt historisch wertvoll und dadurch authentisch. Historischer Wert und das Authentische bedingen sich wechselseitig. Historischer Wert wird Objekten zugeschrieben – so die hier vertretene konstruktivistische Sichtweise –, das Authentische wird als ästhetische Kategorie verstanden, die durch das Intentionalwerden historischer Werte empfunden werden kann. Das Authentische einer Stadt wird also nicht als Eigenschaft, als Authentizität gedeutet, die Objekte von sich aus eignen, sondern zuerst als ästhetische Kategorie, die emotionale Zustände hervorruft. Das Authentische und die Eigenschaft Authentizität vollziehen sich in einem Sprechakt: „Das Objekt sei authentisch!“
Sechs Arten von historischen Werten, mit denen sich historischer Baubestand taxieren, aber durch Zuschreibungen auch aufwerten lässt, werden aus einer Phänomenologie des Historischen abgeleitet und als Analyse- sowie Zuschreibungswerkzeug vorgeschlagen: die epistemische, materielle, temporale, lokale, ästhetische und idealistische historische Wertzuschreibung. Je mehr historische Werte den Bauwerken einer Stadt zugeschrieben werden können, desto authentischer wird die Stadt empfunden. Dazu – so die These dieses Buches – sind Originale oder original Materie nicht zwingend notwendig. Sie befördern die Empfindung des Authentischen, aber notwendig sind sie nicht. Das Authentische einer Stadt lässt sich mit verschiedenen Formen historischer Werte steigern. Sie können in die Konzeption von Bauwerken, aber auch in die Konzeption von Stadtentwicklungskonzepten eingebunden werden. Der Klimaschutz ist, so eine Hauptthese, kein Hinderungsgrund für die historisch wertvolle und authentische Stadt, sondern deren explizite Chance. Neue Urbanistik im Zeichen des Klimaschutzes wird die historischen Dimensionen der Städte durch die Kultur des nachhaltigen Bauens stärken können. Auch für die Ausprägung ästhetischer Formen von Resilienz dient dieses Vorgehen als Vorschlag.
Geschichte von Bauwerken ist fraglos gewichtiger Bestandteil allgemeinen Interesses. Immobilienwerte werden aus Geschichte geschöpft, gleichgültig ob dies ehemalige Kirchen, Industriegebäude um 1900 oder Wohngebäude der 1970er-Jahre betrifft. Eine Konservenfabrik und eine mechanische Weberei, die zu Wohnraum konvertiert werden, lädt der Immobilienhandel mit Erzählungen über ihre industrielle Funktion historisch auf. Sie bekommen dadurch den Reiz der besonderen Wohnkultur, die sich vom geschichtenlosen und geschichtslosen Neubau unterscheidet. Auch den Stadt-Tourismus begründet die authentische Stadt.[i]Sie erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Tel Aviv hat eine unverwechselbare Atmosphäre des International Styles des 20. Jahrhunderts. Es ist die Bauhausstadt, der keine andere gleicht. Rom steht für eine Stadt der Geschichte, die durch das Nebenher von Monumentalbauten mehr als zweier Jahrtausende gekennzeichnet ist. Rom ist zugleich eines der prototypischen Beispiele des Weiterbauens einer Stadt. Dubai setzt hingegen auf einen kontemporär-ubiquitären Stil mit radikalem Gestaltungswillen, der offenbar keinerlei Begrenzungen kennt. Weder der Himmel noch das Meer scheinen Hindernis zu sein. Der Altstadtbereich al-Bastakiyya, der weitgehend Ende des 19. Jahrhunderts mit lokalen Baumaterialien und -techniken errichtet wurde, ist nicht zu entwickeln und sollte auch nicht entwickelt werden, um dem ubiquitären Neubauen etwas Historisch-Lokales entgegensetzen zu können. Das Neubauen ist das Authentische dieser Stadt am Persischen Golf.
Besucher ziehen alle urbanen Typiken und Einzigartigkeiten an, deswegen zahlt sich das Leitbild der authentischen Stadt ökonomisch aus. Wer aber bestimmt die historischen Werte und die Authentizität der Bauwerke? Die Bauforschung kann dies einerseits bezüglich der materiellen Bauhistorie tun. Der Denkmalschutz erstellt Gutachten über die Bedeutung der historisch-materiellen kunsthistorischen und historischen Zeugenschaft mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Materie und Originalen. Bauforschung wie auch Denkmalschutz bedienen vor allem materielle Teilbereiche der Geschichtskultur. Das Immaterielle, die sozialen Konstruktionen des Bauerbes, und seine Zeichenhaftigkeit werden jedoch zu wenig erfasst. Aber sie sind überaus bedeutend, denn sie wirken auf Materie stärker ein, als Materie auch nur ansatzweise die soziale Konstruktion bedingen könnte. Ihre Bedeutung wird in den nun folgenden Kapiteln vielfach und aus mehreren Perspektiven dargestellt. Dazu gehört ein Verständnis der Vergangenheit von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit, denn vor allem Wissen, soziale Konstruktion und nicht nur Objekte machen urbane Räume attraktiv. Materie und Wissen gehören zusammen. Wissen macht Dinge – das ist der konstruktivistische Grundtenor dieses Buches.
Es beschäftigt sich mit der Entwicklung von Analysemethoden der historischen Wertermittlung und der Authentizitätsbestimmung von Kulturerbe. Regional- und landesgeschichtliche Forschung sowie Befunde der Bauforschung, des Denkmalschutzes und der Kunstgeschichte werden interdisziplinär vereint, um Grundlagen für eine historisch argumentierende Stadtentwicklung zu erarbeiten, die auf geschichtskulturelle Nachhaltigkeit zielt. Das Buch möchte die geschichtskulturelle Dimension in der Diskussion um die nachhaltige Entwicklung urbaner Räume stärken und mithilfe der Zeichentheorie dem bestehenden Denkmalschutz Lösungen für die Zukunft der urbanen Räume zwischen Klimaschutz und Denkmalkult anbieten.
Ausgangspunkt sind die Positionen Alois Riegls zur Denkmaltheorie. Er ist einer der einflussreichsten Kunst- und Denkmaltheoretiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie prominenter Vertreter der kunsthistorischen Wiener Schule. Riegls universalistischer Denkmalbegriff und seine Kategorien der Gegenwartswerte und Erinnerungswerte des Denkmals erfahren eine Reflexion an den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der New Urban Agenda. Neben Riegls Gebrauchswert und relativem Kunstwert sowie historischem Wert und Alterswert wird hier der historische Wert differenziert aufgeschlüsselt und um historische Authentizität als ästhetische Kategorie sowie als Zuschreibungsnarrativ erweitert. Historische Authentizität ersetzt Wort und Begriff des Originals, das im 20. Jahrhundert als wichtigster und höchster Wert in Kunstgeschichte, Denkmalschutz und Denkmalpflege gesetzt worden war. Mit der hier vorgestellten aufgefächerten Kategoriensystematik lassen sich verschiedenste Phänomene des Umgangs mit Kulturerbe erfassen, klassifizieren und taxieren und für die Weiterentwicklung nutzbar machen.
