Gisela Frank und Philip Schmoeger – Arbeiten mit Papier, Ausstellung in der Galerie Süßkind, Dominikanerstraße 9, Augsburg.
Papier und die Welt
Eine Rede von Stefan Lindl
Am 29. Februar 2024 wurde die Ausstellung von Gisela Frank und Philip Schmoeger eröffnet. Stefan Lindl hielt die Laudatio. Frank und Schmoeger arbeiten mit Papier auf denkbar unterschiedliche Weisen. Die eine sucht und findet Materialien, um mit ihnen während des Gestaltens zu gestalten, der andere plant minutiös sein Werk, bevor er einem speziellen Werkstückpapier als Origami zu einer seriellen Form verhilft. Die eine erscheint während der Gestaltung präsent als Künstlerin, der andere verschwindet im Gestaltungsprozess hinter dem Plan, wird zu seinem Werkzeug. Zwei Welten scheinen aufeinanderzutreffen und doch harmonieren sie bestens.
Gisela Frank und Philip Schmoeger – Die Rede als pdf

Foto: Philip Schmoeger, Galerie Süßkind.
Die Rede
Herzlich möchte ich Sie begrüßen zu dieser Ausstellung in der Galerie Süßkind mit Arbeiten von Gisela Frank und Philip Schmoeger, die von der Galeristin Sybille Terpoorten zusammengeführt wurden. Es ist mir eine Ehre und Freude heute über die Kunst der beiden sprechen zu dürfen.
Diejenigen unter Ihnen, die mich bereits kennen, wissen, dass meine Vorträge meist mit einer Themaverfehlung beginnen. Diejenigen, die mich noch nicht kennen, werden dieses Themaverfehlen sogleich erfahren. Ein Thema zu verfehlen, bezeichne ich als meine Leidenschaft, aber vor allem verwende ich die Verfehlung als ein rhetorisches Mittel, um die Arbeiten von Frank und Schmoeger in der Differenz herausarbeiten zu können. Deswegen bitte ich Sie nicht irritiert oder gar verwundert zu sein, dass ich nicht sofort darüber sprechen werde, wofür Sie alle gekommen sind: über die Kunst. Nein, vielmehr nehme ich Sie mit auf einen Spaziergang in die Alpen, führe Sie danach in eine kleine Unterrichtseinheit über Philosophie und ganz besonders über europäisches Denken, um dann auf die Arbeiten von Gisela Frank und Philip Schmoeger zu kommen.

Vom Wegebau. Oder: eine Themaverfehlung
Begleiten Sie mich in die Alpen? Durch das Voralpenland Richtung Tirol. Können Sie sich vorstellen, wie der Deutsche oder Österreichische Alpenverein neue Wege anlegte und noch immer anlegt? Da wird das Gelände betrachtet, Anstiege, Abstiege, Felsen, Waldstücke, Pflanzen, Gefahrenstellen. Schritt für Schritt wird der neue Weg als Wille und Vorstellung an den Gegebenheiten in einem steten Zwiegespräch von innen und außen, von Vorstellung des Wegs und den Gegebenheiten, errichtet. Wanderwege passen sich immer der Landschaft, dem physisch-geografischen Raum, der Geologie und sonstigen landschaftlichen Bedingungen an, um zu sehenswerten Orten zu führen, von denen sich die Erhabenheit und Schönheit der Berge erfahren lässt, aber auch deren Schattenseiten. Wanderwege werden in einem Zwiegespräch mit Gegebenheiten erbaut. Was vorgefunden wird, wird genutzt, um den sichersten und gleichzeitig spektakulärsten Weg zu finden. Bereiche, die Schwierigkeiten bereiten, werden sicher verbaut, nichts ist planbar, der Weg ist das Ziel des Wegebaus in den Alpen. Dort gibt es keinen detaillierten Plan, sondern nur eine ungefähre Vorstellung, wo der Weg entlang laufen soll.
Völlig anders vollzieht sich der Wegebau im urbanen Raum. An großen Umgehungsstraßen lässt sich das studieren. Hier in Augsburg heißt eine markanter vierspurige Verkehrshauptschlagader „Schleifenstraße“. Sie wurde in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bis Anfang des neuen Jahrtausends in mehreren Abschnitten fertig gestellt. Angedacht war sie bereits vor 1930, aber erst in diesem Jahr plante sie Theodor Fischer ganz konkret. Ein prominenter Stadtplaner und Architekt mit einer unüberschaubaren Schülerzahl und damit großen Breitenwirkung war er gewesen, der mit vielen Stadtplanungen betraut worden war, so auch mit der Augsburger. Auf dem Reißbrett entwarf er diese Schleifenstraße. Augsburger Bürgerinnen und Bürger stifteten Grundstücke, damit die Stadt die Verkehrsader verwirklichen konnte. Stattliche 70 Jahre hat es gedauert, dass die Planung von Fischer umgesetzt, hypostasiert wurde. Dabei war nicht der Weg das Ziel des Wegebaus, sondern das Ziel war der Weg, egal welche Hindernisse sich aufgetürmt haben, die Hindernisse wurden nicht gemeistert wie in den Alpen, sondern einfach weggeräumt und eine unübersehbare Straße daraufgesetzt. Planung auf dem Reißbrett benötigt kein übermäßiges Eingehen auf Höhenprofile und Reliefs, wie ein Wanderweg, der sich an die Landschaft immer wieder anpasst. Im urbanen Raum passen die Bagger und Radlader die Landschaft an die Planung an. Das sind zwei völlig unterschiedliche Zugänge.
Philosophische Betrachtung
In der europäischen Philosophiegeschichte finden sich zwei ähnliche Herangehensweisen: die Induktion und die Deduktion parallel dazu verlaufen die Begriffe Empirie und Logik. Induktion bedeutet, äußere Gegenstände zu erfassen, physisch wie auch psychisch, und im Erfassen zu einer Idee zu transformieren, die eine Vorstellung erzeugt. Vom speziellen Gegenstand in der Wirklichkeit geht diese induktive Reise zu einem allgemeinen Begriff der Vorstellung. Unter Deduktion hingegen wird die zur Induktion antagonistische Bewegung verstanden: Aus einem allgemeinen Begriff, also einer Vorstellung, wird ein spezieller Gegenstand erzeugt. Aus der Landschaft der Alpen, den materiellen und dinglichen Begebenheiten, wird ein allgemeiner Begriff von einem Weg induktiv geformt, der in einem weiteren deduktiven Schritt, verwirklicht wird. Hingegen verhält es sich bei der Schleifenstraße anders: Dort ist eine allgemeine Idee einer Umgehungsstraße die Ausgangsituation, die deduktiv verwirklicht wird. Vom Allgemeinen zum Speziellen! Im Wegebau gibt es also zwei verschiedene Arten: Die Alpenwanderwege erweisen sich zuerst induktiv, weil die äußeren Gegebenheiten eine Vorstellung von einem Weg formen. Dann ist die Bewegung deduktiv, um den Weg zu bauen. Im Falle der Augsburger Schleifenstraße wird ohne Rücksicht auf die speziellen Gegebenheiten eine Idee entwickelt, die deduktiv verwirklicht wird. Dort fehlt die Induktion. Erst in der Ausführung wird Schritt für Schritt die Umgebung und deren Höhenprofile im Detail berücksichtigt. Es handelt sich also um verschobene Schwerpunkte. Denn um die zirkuläre Bewegung der Induktion und Deduktion oder der Deduktion oder Induktion kommen beide Arten des Gestaltens nicht herum. Sie verhalten sich ein wenig wie die Tonarten Dur und Moll, dieselben Töne erzeugen je nach Ausgangspunkt verschiedene Stimmungen.
In der französischen Anthropologie gibt es einen herausragenden Vertreter des 20. Jahrhunderts: Claude Lévi-Strauss. Er bildete die Kategorie des bricoleurs, des Bastelns, für die Art des Bauens im Alpenverein und die Kategorie des ingenieurs, für die Planung großer Straßenbauvorhaben. Der bricoleur verwendet all das, was er gerade zufällig findet, und gestaltet damit Neues ganz kontingent. Ein ingenieur hingegen entwickelt eine Idee, um ein Problem zu lösen, dazu verwendet er nichts Zufälliges vorhandenes, sondern exakt für seine Probleme vorbereitete Materialien. Hier spielt der Zufall keine notwendige Rolle, wie beim bricoleur oder der bricoleuse. Letztlich wird wieder klar, es handelt sich lediglich um eine Schwerpunktverschiebung wie bei Dur und Moll. Die Differenz ist der Umgang mit Ressourcen und die Ressourcen selbst.
Die Kunst
Es erschließt sich nun die Themaverfehlung von selbst: Gisela Franks Kunst entspricht den Wanderwegen, der Induktion, der bricolage. Ihre Arbeiten haben so wundervolle Titel wie „Eisbollen auf dem Kuhstallfenster“ oder „Henkel mit Kopf“ oder „Gespinst“. Die Materialien für ihre Werke findet sie einfach so, zufällig, unbeabsichtigt. Was ihr in den Sinn kommt, formt eine Ahnung einer Gestaltung. Das findet zu Hause mit bescheidenen Kartonagen statt, mit Textilien wie Nessel oder Butterbrotpapier und Hasenleim oder auf dem Schrottplatz. Alles hatte schon sein erstes Leben und wird von Frank wiederverwertet oder wiederbelebt. Recycling als Kunstprozess.

Auch alte Arbeiten von ihr, Drucke, Radierungen werden wiederverwertet und zu neuer Kunst. Dabei agiert Gisela Frank nicht nach einem Masterplan, sondern nach der Gestaltung selbst. „Doing Art“ heißt die treffende Beschreibung ihres Schaffens, aus dem Finden und Tun entsteht die Kunst, nicht aus dem festen vorgefertigten Plan. Alles formiert sich, weil es sich formieren muss in einem steten Prozess von Induktion und Deduktion. Am Ende steht ein Kunstwerk, dem es nicht anzusehen ist, ob es von Beginn an geplant oder zufällig im Prozess entstanden ist. Das Zufällige und Prozessuale sind jedenfalls wichtige Bestandteile der Kunst von Gisela Frank, auch wenn niemand es der Kunst auf den ersten Blick sowie ohne einen Blick hinter die Kulissen des Erzeugens von Kunst ansieht. Plan oder nicht Plan. Das Ergebnis lässt es nicht zu nur durch Wahrnehmung zu erkennen, ob bricoleuse oder ingenieur am Werken waren.
Leichter noch lassen sich die Arbeiten aus Papier von Philipp Schmoeger taxieren. Sein Origami, seine Tessellationen und Korrugationen, die seriellen exakten Miniaturen, reduziert, klar, asiatisch, gehören der Praktik der Schleifenstraße in Augsburg an, aber auch der Deduktion, der Planung, dem Vorgehen der Ingenieure, wie Claude Lévi-Strauss sagen würde. Minutiös plant er, was herauskommen soll, entwirft eine Idee, einen Plan, rechnet, berechnet, vermisst das zukünftige, noch in weiter Ferne befindliche Objekt. Dazu gebraucht er spezielles Papier, das in einem hoch technischen Prozess nur dafür gefertigt wird, Papier zu falten – ori kami. Es ist kein Butterbrotpapier, das die bricolage von Gisela Frank aufweist, es ist kein Nessel, der herumliegt, kein Teil einer Palette vom Schrottplatz, keine alten Eisennägel, die nicht dazu bestimmt sind, zu werden, was Frank aus ihnen macht. Schmoegers Papier entspricht hingegen einem technischen Werkstoff, der für nichts anderes bestimmt ist, als gefaltet zu werden. Zufall spielt hier keine Rolle, sondern klare Bestimmung und deutliche Zuschreibung. Bei Gisela Frank folgt die Idee den Dingen, die von der Künstlerin zufällig vorgefunden werden. Bei Philip Schmoeger folgt das Ding der Idee, wie das Werk aussehen soll. Der Schaffensprozess verhält sich umgekehrt wie Induktion und Deduktion, wie bricoleuse und ingenieur.
Erstaunlich erscheint auch der analytische Blick auf die Künstlerin und den Künstler. Ist Frank, die bricoleuse, die induktive Denkerin, während des Arbeitens eine unfassbar präsente Künstlerin, die ihre Ideen in ein Werk nach außen kehrt, verschwindet Schmoeger, sobald er seine Planung abgeschlossen hat. Er wird selbst zum meditativen Werkzeug seiner Idee. Schmoeger verschwindet während des Faltens als Künstler und unterstellt sein Können seiner Idee. Während des Gestaltungsprozesses vermissen wir seine Existenz. Mit der Idee hat er seine Kunst schon fast verlassen. Gisela Frank hingegen beherrscht sie, bis sie empfindet, dass es nun gut sei. Ihre Arbeit an der Kunst entspricht nicht einem Verschwinden, sondern einer ungemeinen Präsenz der Künstlerin.
Doch letztlich, wenn wir durch die Räume dieser Galerie Süßkind streifen, sehen wir es den Dingen nicht an, durch welchen Prozess sie erschaffen wurden. Sie sind. Geplant, ungeplant, sind unhinterfragbar, solange wir nicht miteinander reden über das, wie sie entstanden sind. Beide Herangehensweisen von Gisela Frank und Philip Schmoeger harmonieren in dieser Ausstellung unfassbar gut. Unterschiedlicher könnten sie nicht sein und doch passen sie, repräsentieren sie doch die einzigen Möglichkeiten, wie wir unsere Welt gestalten können. Lasst uns darüber reden!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Rede wurde am 29. Februar 2024 frei gehalten und erst am 4. März 2024 verschriftlicht.