Ein Sonntag im Oktober – Dr. Triebels musikalische Gruppentherapie

„Sehnsucht versus Erfüllung“ im Theater im Fraunhofer, München

Einen Ausklang des Wochenendes, eigentlich ein Infernal des Zusammenklangs am Sonntag, erschuf Dr. Claas Triebel in München. Wo? Im legendären Theater im Fraunhofer in der Münchener Isarvorstadt. Wenn es einen Ausdruck von Entspanntheit, Verbindung, Vergnügen und, ja, sogar Glücksmomenten gibt, dann fällt mir sofort diese musikalische Gruppentherapie ein, die nicht nur musikalisch ist, sondern thematischen Zusammenhalt durch ein übergeordnetes Gegensatzpaar erfährt: Sehnsucht vs. Erfüllung lautete das Thema am 12. Oktober 2025. Musikalisch antwortet Dr. Triebel mit seiner Band darauf, auch weitere Gäste beziehen sich auf das jeweilige Thema. Dieses Mal waren die Gäste dem Tango verfallen, dem finnischen sowie dem argentinischen Tango. Der finnische wurde von Kristina Debelius und Thomas Salzmann von der Frankfurter Band Bändi mit Witz und Leichtigkeit präsentiert, gespielt und gesungen. Für den schweren, sehnsüchtigen finnischen Tango eine nachgerade heitere Darbietung. Sie würden auf ihre Interpretation des finnischen Tangos immer wieder angesprochen, so Debelius, dafür sei das heitere deutsche Gemüt verantwortlich, das Bändi auszeichne. Den argentinischen Tango spielten Ulrich Möller-Arnsberg (Violine) und sein Bruder Gregor Arnsberg (Piano), beide von der Münchner Formation Tango Malevo. Urlich Möller-Arnsberg gelang es narrativ mit Anekdoten aus dem Ursprungsland des Tangos sowie mit einem Atmosphärenwandel des Theaterraums Argentinien in die Isarvorstadt zu holen. – Solche breite musikalischen Programme wurden zum Markenzeichen dieser Gruppentherapie.
Aber es gibt eine weitere sehr untypische Besonderheit: Eingeladen werden zu den Musikerinnen und Musikern auch Sprecherinnen und Sprecher, die mit ihrer thematischen Expertise im unaufgeregten Dialog mit Dr. Triebel das jeweilige Thema ausloten, es phänomenologisch erfassen, es analysieren, ob persönlich, kulturhistorisch oder etymologisch und philosophisch. Wie auch immer, es gibt eine sprachliche Annäherung, die das Musikalische erweitert, illustriert und stumme tiefe Gefühle und munteres Denken miteinander verbinden. Am 12.10.25 durfte ich über Sehnsucht und Erfüllung sprechen. Vor allem ging es mir um die Sehnsucht, die für mich eine besondere Bedeutung hat.
Aus diesem interdisziplinären, diversen Mosaik entsteht spätestens nach der Pause ein Zusammenklang, der so Ober- und Untertonreich ist, dass die Gesamtheit des Abends viel mehr darstellt als die Summe seiner Teile. Eine gemeinsame Welt verschiedenster Welten entsteht im Theatersaal, die ihres Gleichen zwischen Musik, Text und Publikum sucht. So vielschichtig und doch so harmonisch zusammen, so unterschiedlich, so erstaunlich übereinstimmend. 

Bereits ein zweites Mal durfte ich bei dieser musikalischen Gruppentherapie des studierten und promovierten Psychologen, der auch Autor, Liedermacher, Multiinstrumentalist ist, den Sprechteil übernehmen. Ich tat es sehr gerne und aus der Retrospektive war dieser Abend so angenehm und großartig, wie es selten bei Veranstaltungen der Fall ist. 

Sehnsucht und Erfüllung

Das Thema selbst, die Sehnsucht und die Erfüllung, umschließt einen der großen Bereiche des Lebens, die mich schon immer bewegten, weil die Sehnsucht nicht nur weh tut, sondern einfach hinfort bewegt. Sie treibt an, zumindest trieb sie mich an. Sie kann wohl auch zerstören, wenn es nichts mehr anderes gibt als den Schmerz und das Leid, das beides ins Siechtum führen kann. Die Sucht des Sehnens beschreibt das Siechtum gut. 

Es sei nur daran erinnert, wann die deutsche Sehnsucht erstmals in einer Dissertation erfasst wurde: Der Mühlhausener Medizinstudent Johannes Hofer reichte 1678 eine Dissertation an der Universität Basel ein. Er hatte sich der Nostalgia gewidmet, dem Heimweh der Schweizer Garden im Vatikan und in Paris. Hofer beschrieb das auslösende Moment der Nostalgie, nämlich das Erklingen des „Kuhreihen“, dem „Ranz des vaches“. Der Kuhreihen ist ein Schweizer Hirtenlied, ein identitätsstiftendes Symbol für Schweizer Heimat, mit dessen Ertönen weidende Kühe von Hirten zum Melken angelockt wurden. Für die Schweizer Gardisten führte der Klang des Lieds die absente Heimat vor Augen. Dieses Heimweh, von Hofer Nostalgia genannt, ließ die Schweizer desertieren und sogar suizidieren. Die Diagnose lautete deswegen auch: Schweizer Krankheit – morbus helveticus. Angeblich sei wegen der Schweizer Nostalgia das Spielen des Kuhreihen in Frankreich des 18. Jahrhunderts verboten worden. Er trug eine zu hohe Konzentration des Heimwehs in sich. 

Heute verstehen wir unter Nostalgie etwas anderes. Sie ist eine der vielen Sehnsüchte geblieben, aber nicht die des Heimwehs, sondern die Sehnsucht nach der verlorenen Zeit. Trotzdem ist es das Verdienst Hofers, diese Sehnsucht das erste Mal formuliert und vor ihren Folgen gewarnt zu haben, sogar vor Todesfolgen aufgrund des nahezu unerträglichen Schmerzes. 

Schmerz erscheint für die Sehnsucht ein unabdingliches Merkmal. Sehnsucht ist nicht einfach ein drängender Wunsch oder ein unbedingtes Verlangen, sondern süßer oder auch bitterer Schmerz, der entsteht, weil das Ersehnte nicht erreichbar zu sein scheint. Das Feuer, das Sehnsucht entfacht, erlischt mit der Erfüllung des Ersehnten, dem Erlangen des Ersehnten. Dieses nicht Erreichen und Erlangen definiert alle Sehnsüchte, nur ihre Gestalten sind anders. Es gibt das Heimweh, der Schmerz über die unerreichbare Heimat. Fernweh-Sehnsucht, die unerreichbare Fremde. Die Nostalgie, der Schmerz über die verlorene Zeit, gerichtet in die Vergangenheit und die Utopie, die auf das Vorstellbare und Zukünftige zielt, das im Jetzt nicht erreicht werden kann. Dann gibt es noch die Wehmut-Sehnsucht, die von einem allgemeinen unspezifischen Weltschmerz dominiert wird und sich auf einen unbestimmbaren anderen Zustand richtet, der nicht benannt und nicht sich vorgestellt werden kann. 

Alle Sehnsüchte kennzeichnet süßer oder bitterer Schmerz über die momentane Unerreichbarkeit des Ersehnten. Interessant ist, was aus diesem Gefühlszustand entstehen kann. Einerseits wie bei den Schweizer Gardisten ist es die Todesgefahr, andererseits kann Sehnsucht der Stoff sein, der zu ungeahnten Taten befähigt, um den Schmerz zu sublimieren, zu transformieren.

So hat die erfüllte Sehnsucht ihre Tücken. Denn wer erfüllt ist, kann nicht sehnsüchtig sein, kann nicht leiden und darf die Schmerzen der Absenz des Ersehnten nicht ertragen, um daraus Kraft zu schöpfen. Die erfüllte Sehnsucht ist vielleicht wünschenswert, ist ein scheinbar sicherer Hafen. Er erscheint genußreich ruhig, zu ruhig und irgendwann vielleicht sogar zu langweilig. 

Es empfiehlt sich also Sehnsucht zu kultivieren, Utopien des Selbst aufzustellen, damit das Leben weiter nach Erfüllung strebt und sich verändern kann. Sehnsüchtig sein heißt Zukunft zulassen.

Ersehne Dich wieder selbst! Nur berücksichtige die Dosis. Das Sehnen sollte nicht schaden.

Gelesene Texte von Stefan Lindl

Vor ca. drei Jahren hörte ich das Schlaflied von Claas Triebel das erste Mal. Es berührte mich, weil ich lange Zeit davor versucht habe, nicht mehr sehnsüchtig zu sein, um ruhig genießen zu können. Damals hatte ich auf das Schlaflied einen kurzen Text als Replik geschrieben und längst vergessen. Die Suchfunktion des Computers hat den Text wiederentdeckt. Am 12.10.25 wurde er das erste Mal gelesen so auch der Text „Wohin?“

Bleibt sehnsüchtig!

Eine Antwort auf Claas Triebels ‚Schlaflied‘ (Apple). Schlaflied (Spotify)

Bin ich der Mensch, der ich sein wollte?

ein song eines alten freundes klingt aus den
weiten des internets in melancholie
erinnert an rio
reiser verzweifelt empört resigniert
über die zeitläufte
die divergenz von entwurf des eigenen lebens
und sein im jetzt seiner mitte
die sehnsucht nach dem menschen,
der wir sein wollten und doch nicht durften
oder konnten

ich fragte mich, wie ist’s mit mir,
bin ich der mensch, den ich mir ermalte
in stunden der tagträume einst im garten
der eltern zwischen fluss und hang?
kein überlegen mehr. kein zweifel.
ich bin es, bin das wunschbild des kindes
bin es geworden nach langem zaudern
weinen fluchen und tun
könnte ich glücklicher sein?
selbst die heimat hab ich gefunden.

nur eines fehlt vielleicht, der tosende applaus,
die weltberühmtheit, die sich das kind wünschte.
fern

es kann nicht alles werden im sein
und trotzdem ist alles ganz und gar mein.







wohin?

selbst im raum ohne sehnsucht
im tempel der zufriedenheit
schleicht sich ab und zu
unvermittelt die frage an
die zukunft schnappt
wohin?

wohin koexistiert mit woher
ganz besonders wer
die großen fragen eben

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