Vortrag: Destroy ‚Kulturerbe‘. Dekonstruktion, 27.06.24

We destroy ‚Kulturerbe‘. Dekonstruktion einer Gewissheit.

Die folgenden Zeilen sind kein Vortragsmanuskript, sondern lediglich ein Nachschrift aus der Erinnerung des Vortragenden. Es handelt sich um eine gemeinsame Dekonstruktion des Begriffs ‚Kulturerbe‘ mit den anwesenden Student*innen in einer frontalen Lehrsituation des Hörsaals III der Universität Augsburg.

Kulturerbe ist zu schützen. Dafür gibt es nicht nur den Denkmalschutz auf Landes- und Bundesebene, sondern auch die global agierende UNESCO. Bei schützenswertem Kulturerbe handelt es sich meist, um besonderes Kulturerbe, nicht um den angebissenen Apfel, der auf dem Boden liegt, nicht um das digitale, jedoch missratene Touristenfoto des Eifelturms, nicht um die PET-Flasche im Abfall auf dem Bahnsteig. Auch all diese alltäglichen Gegenstände wären schließlich Kulturerbe, jedoch keines, das in unserem Wertesystem an einen sehr hohen Nagel gehängt würde. Dieses Kulturerbe bildet den Bodensatz. Seltsam eigentlich! Warum nur ist nicht Kulturerbe Kulturerbe? 

Definition: Hier wird Kulturerbe erst einmal nonhierarchisch verstanden. Alles, was auf uns gekommen ist, das anthropogener Gestaltung unterlag, ist auch Kulturerbe. 

Trotzdem bleibt auch die Frage bestehen: Was ist also schützenswertes Kulturerbe? Und vor allem: Was macht es eigentlich besonders? Das lässt sich anhand vieler Beispiele dekonstruieren und während der Dekonstruktion wird immer deutlicher: Kulturerbe ist weniger Materie und Objekt als soziale Kompetenz und soziale Konstruktion. Kulturerbe ist nie aus sich heraus bedeutend, weder der Abfall, noch das UNESCO-Welterbe. Es wird erst bedeutet durch eine psychisch-emotionale Konstruktion, mit der Objekte, aber auch Menschen oder auch nur Erzählungen über längst Verschwundenes prominent werden.

Der Vortrag gliederte sich in fünf Punkte: 

1. Krank: vor Kunst

2. Empört: über Täuschung und Lüge

3. Atmosphärisch: alt oder neu

4. Schätzen: von Wert und Wissen 

5. Enden

1. Krank: vor Kunst

Der französische Schriftsteller Marie-Henri Beyle oder auch Stendhal bereiste 1811 Italien. Ende September gelangte er nach Florenz, um dort lang ersehnt in Santa Croce zu gehen, um die weitgerühmten Sehenswürdigkeiten zu betrachten. 

Stendhal bei dem Besuch ekstatisch, wie er sich selbst beschreibt: „Reise in Italien“:

„Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase. […] Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“

Stendhal: Reise in Italien, in: Manfred Naumann (Hg.): Stendhal: Gesammelte Werke Manfred Naumann, Berlin 1964, S. 234.

Graziella Magherini, eine Florentiner Psychologin, beschrieb das Stendhal-Syndrom 1979, das sich in vielen Reiseberichten des 19. und 20. Jahrhunderts beobachten lässt. Was macht Kulturerbe mit uns? Warum hat es psychosomatischen Einfluss? 

Einen Hinweis gibt Stendhal selbst in seinen Tagebüchern über die Reise nach Italien: 

Stendhal, Reise nach Italien Tagebücher

27. September 1811

Ich komme an und erblicke sogleich die Gräber Michelangelos, Alfieris, Machiavellis und links, gegenüber dem Grab Michelangelos, das Grab Galileis. Wenige Kirchen sind mit solchen Gräbern geschmückt …Was mir aber Santa Croce noch mehr ins Herz gräbt, sind zwei Bilder, die ich dort sah und die mir den stärksten Eindruck gemacht haben, den die Malerei mir je gab.

Gott, wie ist das schön! Bei jeder Einzelheit, die man erblickt, gerät die Seele mehr in Entzücken. Man ist dem Weinen nahe. Vor anderen Bildern zürnt man sich selbst wegen seiner Kälte, sucht seine Seele in Wallung zu bringen und zwingt sich zur Bewunderung, indem man sich die Schönheiten klar macht. […]

Ich glaubte, es gäbe nichts so Schönes wie diese Sibyllen, als mein Lohndiener mich fast mit Gewalt anhielt, um mir die »Vorhölle« zu zeigen. Ich war fast zu Tränen gerührt. Noch jetzt bei der Niederschrift treten sie mir in die Augen. Noch nie sah ich etwas so Schönes. Ich muß etwas Ausdrucksvolles sehen, oder schöne Frauengestalten. Alle diese Figuren sind reizend und deutlich, nichts ist verschwommen. Die Malerei hat mir noch nie solchen Genuß bereitet. Dabei war ich halbtot vor Müdigkeit, hatte geschwollene Füße und neue, zu enge Stiefel an. Dieser kleine Schmerz könnte mir Gott in der Glorie verleiden, aber vor jenem Bilde vergaß ich alles. Zwei Stunden lang war ich tief bewegt.

Das Bild sollte von Guercino sein. Ich bewunderte diesen Künstler im tiefsten Herzen. Aber zwei Stunden später erfuhr ich, daß es von Agnolo Bronzino ist, ein mir bisher unbekannter Name. Das verdroß mich. Man sagte, das Kolorit sei schwach. Da dachte ich an meine Augen. Ich habe einen zarten, nervösen, begeisterungsfähigen Blick, der die feinsten Schattierungen erfaßt, aber von allem Dunklen und Harten (wie bei den Caracci) verletzt wird. […] Alle meine Bewunderung kann von der physischen Beschaffenheit meiner Augen kommen.

Stendhal gibt einen Hinweis zu Bedeutung von Kulturerbe, wenn er schreibt: „Alle meine Bewunderung kann von der physischen Beschaffenheit meiner Augen kommen.“

Vgl. https://www.projekt-gutenberg.org/stendhal/ichmensc/chap049.html

27. September 1811

Das Kulturerbe und vor allem seine Wertigkeit trägt nicht das Kulturerbe, sondern wird aus unserer Wahrnehmung erschlossen. 

2. Empört: über Täuschung und Lüge

Kulturerbe fußt auf Vertrauen. Es benötigt Autoritäten, die ein Objekt zu einem wertvollen Kulturerbe machen. Kulturerbe ist wertschätzende Sprache, besteht aus Narrationen, Geschichten und Geschichte. Ob das Objekt auch wirklich das Objekt ist, das mit den wertschätzenden Worten der Autorität belegt wird, ist letztlich gleichgültig. Vertrauen schafft die Qualität. 

Wenn Autoritäten Vertrauen missbrauchen oder fälschlicherweise etwas behauptet haben, das nicht zutrifft, verlieren die Autoritäten und sogleich wird hochgeschätzes Kulturerbe wertlos. 

Alles hängt an Narration und Vertrauen auf Autoritäten bezüglich dieser Narrationen.

So steht am Ende des Vortrags die Erkenntnis: 

  1. Kulturerbe ist die Ekstase unserer Köpfe beruhend auf Vertrauen in Autoritäten. Solch eine Ekstase wird redundant-narrativ erzeugt. Kulturerbe findet sich mehr in uns als im außerhalb unseres Denkens. 
  2. Objekte, die wir Kulturerbe nennen, spenden Trost. Trost, weil es etwas Nicht-Darstellbares gibt, dass das eigentliche Kulturerbe ist: die soziale Konstruktion von Kulturerbe, die Werteordnungen, das Wissen darüber, alle Narrationen, die auf den Trostspender deuten. 
  3. Am Objekt, das Trost spendet, hängt die Imagination, dass wir in einer Welt leben, die von sich aus die Werte trägt, die wir all ihren Objekten zuschreiben, die sie unserer perzeptiven Wahrnehmung bietet.
  4. Kulturerbe ist deswegen vor allem apperzeptiv zu verstehen.

Der Vortrag folgt dem Vortrag vom Juli 2021: Zerstört das Museale!? Eine Dekonstruktion.

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