Zerstört das Museale!? Vortragstyposkript 1. Juli 2021

Die Klimakirse und die Digitalisierung wird auch die Museen verändern und mit ihnen alle verwandten Orte des Erinnerns. Um mich diesen Herausforderungen anzunähern, ist dieser Vortrag entstanden. Ein Werkstattbericht über die Rolle der Originalen, Partizipation und das Authentische.


Zerstört das Museale!? Eine Dekonstruktion

Vortrag vom 1. Juli 2021, Universität Augsburg, Interdisziplinäre Vorlesung Kunst- und Kulturgeschichte

PD Dr. phil. habil. Stefan Lindl

Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte der Universität Augsburg

Einleitung

Im Musealen verbirgt sich ein erstaunliches Konzept. Es verfügt über die magische Fähigkeit, Funktionsloses, Aussortiertes und Überholtes vergangener Zeiten in etwas Erhabenes und Unantastbares zu verwandeln. Erfolglose frustrierte Alchemisten würden neidvoll anerkennen müssen, das Museale sei ein Laboratorium, in dem sich aus minderwertigen Materialien, ohne auch nur das geringste esoterische Geheimwissen anzuwenden, Gold herstellen lasse. – In dieser kleinen Polemik wird die Fähigkeit des Musealen auf den Punkt gebracht: Artefakte aus der Vergangenheit, die ihrer Funktion enthoben sind, werden durch einen Akt musealer Performanz mit Werten aufgeladen, für die es ein allgemeines Interesse gibt. Das Museale ist ein Produktionskonzept sozialer Wirklichkeit, das jenseits der ausgestellten Objekte Vorstellungen vergangenen Lebens generiert. Das Museale sublimiert also nicht nur Funktionsloses, es produziert Wirklichkeit über das Unsichtbare, das Vergangene, das uns längst verlassen hat. Bewusst spreche ich nicht vom Museum, sondern vom Musealen, das wesentlich weiter greift, als Begriff und Institution des Museums es könnten. Die Ziele des Musealen formulieren sich fast von selbst: Sammeln künstlicher Welten, Erinnerung, Forschung, Bildung, Aufklärung, historische Erfahrung, empathisches Einfühlen und umfassen damit ein Spektrum von Kognition bis Emotion. Die Mittel, wie diese Ziele erlangt werden, präsentieren sich vielfältig. Ihnen möchte ich in diesem Vortrag ebenso nachspüren, wie den Folgen dieser Mittel, also was sie mit Besucher:innen machen und was sie bei ihnen anrichten oder Positives bewirken. Auch möchte ich überlegen, ob es möglich wäre, das Konzept, das in allen musealen Formationen steckt, aufzugeben, nicht zuletzt aus Gründen des Klimaschutzes und der Digitalisierung. Zerstört das Museale! Wäre dieser Ruf ein Weg für eine Zukunft des Ausstellens, Erinnerns und Gedenkens? Dabei gehe ich von verwandten Formen des Erinnerns aus, dem architektonischen Kulturerbe und den Gedenkstätten im Vergleich zum Museum. Ich werde nach den Formen des Originals beziehungsweise des Authentischen fragen, die als museale Mittel zusammengehören und bestimmte Folgen zeitigen. Letztlich geht es auch darum, zu erörtern, ob eine andere Form des Erinnerns möglich wäre. 

Nähe und Ferne – Exklusion und Inklusion

Das antike Museum, das griechische μουσεῖον mouseîon, existiert nicht mehr. 300 v. Christus stellte dieser Tempel der Musen in Alexandria das Kernstück der Alexandrinischen Schule dar und beherbergte die berühmte Bibliothek. Das mouseîon Alexandrias erfüllte die Funktion der heutigen Universitäten, war ein Ort der Forschung und Wissensvermittlung. Mit der heutigen Bedeutung des Museums hatte das mouseîon wenig zu tun. Das Museum, wie wir es heute kennen, ist eine spätere Erfindung eines kunstsinnigen Habsburgers, eines Individualisten und Rebellen, der lieber einer morganatischen Ehe frönte, als sich dem Habsburgischen „tu felix Austria nube!“ zu beugen. Sein eigensinniger Lebensstil führte nicht nur zu einer glücklichen Ehe, sondern auch zu einem Meilenstein der Museumsgeschichte. 

In der Renaissance bildeten sich Sammlungen von Kunstgegenständen aus, die von Humanisten zusammengetragen worden waren und dann oft die Grundstöcke der heutigen Museen wurden. Papst Sixtus IV. hatte die Grundlage der Kapitolinische Sammlungen 1471 gestiftet. Julius II. legte den Grundstein für die Vatikanischen Museen 1506. Aber das waren Sammlungen von kunstsinnigen Menschen, die ihre Macht repräsentierten: Kunst ist zwecklos, wer sie besitzt, besitzt Schönes, Heiliges, Wundersames, Künstliches, Künstliche Welten, um sie zu besitzen, um sie zu zeigen, um damit zu sagen: Ich kann mir auch jenseits des Existentiell-Notwendigen und pragmatisch Funktionalen, absolut Funktionsloses leisten, das einfach nur da ist, um sich daran zu erfreuen oder um davon ergriffen zu werden. Genuss ist ein Ziel des Sammelns, das nie zu einem Ende kommen kann. Sammlungen sind immer unvollständig. Gefühl, Nähe zu Heiligem, zur authentischen Empfindung von Heiligen Szenen, wie der Geburt Christi oder die Skulptur der Pieta, als ewiger Karfreitag, waren die Objekte der päpstlichen Sammler. Sie gab es nicht nur im Vatikan, sie gab es in Augsburg und auch in den Bergen Tirols und dort vollzog sich im 16. Jahrhundert der nächste Schritt von der Sammlung zum eigenständigen Museum. 

Östlich Innsbrucks existiert das älteste noch bestehende Museum, das in einer romantischen Verbindung mit Augsburg steht: Erzherzog Ferdinand II., Ehemann der Augsburger Patrizierin Philippine Welser, gründete auf Schloss Ambras ein Kunstmuseum, das einzige, das bis heute kontinuierlich existiert. Und noch etwas ist an Schloss Ambras spektakulär: Ferdinand II. ließ ca. 1570 das Unterschloss Ambras bauen, das nur eine einzige Funktion hatte: die Aufnahme seiner Kunstsammlungen. Das gab es nicht einmal in Rom. Damit wird das Unterschloss als erster noch bestehender Museumsbau bezeichnet. Es gibt noch einen früheren Solitärbau, die Wiener Kunstkammer an der Hofburg. Sie wurde von Ferdinands Vater, Ferdinand I., ab 1558 errichtet. Kürzlich wurden ihre Fundamente entdeckt. So verbleibt Ferdinands II. Museum als das erste und älteste reine Museum: Schloss Ambras – Tirol als der Grundstein einer weltweit sich etablierenden Institution. Das übersteigt sehr wohl das Tirol-Bild, das uns Emanuel Schikaneder hinterlassen hat. Der Librettist von Wolfgang Amadé Mozarts Zauberflöte wollte mit einer komischen Oper an den Erfolg der Zauberflöte nach dem Tod Mozarts anknüpfen. „Der Tyroler Wastel“ wurde ein Reinfall, aber Schikaneder produzierte das naive Bild der genügsamen Tiroler, die glücklich und froh auf Stroh schlafen. Nicht nur Maximilian I. und Ferdinand II. zeugen von ganz anderen Qualitäten der Tiroler. 

Ein weiterer Meilenstein der Museumsgeschichte findet sich in München und ist mit dem Namen Ludwig I. verbunden, der von Leo Klenze die Glyptothek errichten ließ, die seit den 1830 Jahren bis heute kontinuierlich die Funktion des Museums erfüllt. Die Glyptothek war nur als Museum konzipiert worden, aber doch lange 260 Jahre nach dem Unterschloss von Ambras durch Ferdinand II. 

Sammler waren wichtig für die Entwicklung der modernen Museen und Sammeln war tatsächlich die Grundlage der Museen. Heute ist der Begriff des Museums nochmals erweitert. Die heute rechtsverbindliche Definition des Museums formulierte der ICOM, Internationl Council for Museums 2007:

«Un musée est une institution permanente sans but lucratif, au service de la société et de son développement, ouverte au public, qui acquiert, conserve, étudie, expose et transmet le patrimoine matériel et immatériel de l’humanité et de son environnement à des fins d’études, d’éducation et de délectation.»

„Ein Museum ist eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, beforscht, präsentiert und vermittelt das materielle und immaterielle Erbe der Menschheit und deren Umwelt zum Zweck von Studien, der Bildung und des Genusses.“

Seit 2019 wurde eine Mitgliederbefragung durchgeführt, die zu einer neuen Definition des Museums führen soll. Begriffe wandeln sich und müssen den zeitgemäßen Bedarfen nachkommen und angepasst werden. Die Definition des ICOM von 2007 beschäftigt sich nicht mit der Sublimierung von Entitäten, das heißt, mit der Zuschreibung von Erhabenheit durch den performativen Akt, des Musealisierens. Wenn ein Objekt, sei es materiell oder immateriell, entfunktionalisiert ist und auf das Podest des Museums erhaben erhoben wird, verschiebt sich der ontische Gehalt des Objekts. Genau dieser Zuschreibungsprozess, dieser Sprechakt: „Du seist museal! Oder: Du seist museumsreif!“ scheint dem ICOM so selbstverständlich zu sein, dass er gar nicht erwähnt werden muss. Ich denke aber, er ist es sehr wohl. Denn das Zeitgemäße, das in die Definition vielleicht vermehrt hervorgehoben gehört, ist die Partizipation der Besucher:innen. Betrachten wir einmal das Museum nach der Definition des ICOM und deklinieren sie durch einige Beispiele. 

„Ein Museum ist eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, beforscht, präsentiert und vermittelt das materielle und immaterielle Erbe der Menschheit und deren Umwelt zum Zweck von Studien, der Bildung und des Genusses.“

Bewahren, beforschen, präsentieren und vermitteln von materiellem und immateriellem Erbe steht im Zentrum der Ziele der dauerhaften Institution Museum. Um diese Definition des ICOM besser erfassen zu können, scheint ein Vergleich dienlich zu sein: Wie unterscheidet sich Kulturerbe im Museum vom Kulturerbe im freizugänglichen urbanen öffentlichen Raum? Was macht das Museum mit dem Erbe, was macht der öffentliche Raum mit ihm? Die Antwort auf diese Fragen scheint einfach. Kulturerbe als Teil des urbanen Raums und Teil des alltäglichen Lebens besitzt oft noch die ursprüngliche Funktion. Kirchen und Rathäuser bieten sich als Beispiele hervorragend an. St. Anna in Augsburg, Ulrich und Afra oder der Augsburger Dom gehören zum ausgewiesenen und qualitativ hochwertigen Erbe Süddeutschlands, das Rathaus von Elias Holl ebenso. Doch dieses Kulturerbe hat neben seiner Funktionalität noch einen musealen Anspruch, der von Repräsentanten der katholischen Kirche oft nicht gerne gesehen wird, zumal in Augsburg, obwohl die Unterhaltspflichten der Kirchen dem bayerischen Staat auferlegt sind. Dieser museale Anspruch dieses speziellen architektonischen Kulturerbes fördert besonders in den Sakralbauten Zielkonflikte zu Tage: Während die aktiv-gläubigen Christenmenschen beten und Messen feiern wollen, wollen die anderen Altarblätter, Retabeln, Skulpturen und historische Glasfenster betrachten. Die rituell-museale Mischnutzung dieser Bauwerke zeigt schnell den Vorteil der Institution des Museums. Ein säkularisiertes Kloster, das entfunktionalisiert, entritualisiert und befreit vom Kultus als Museum genutzt wird, um die Lebenswelt von Mönchen in der Vormoderne erfahrbar zu machen, hat die Probleme der Zielkonflikte von kunst- und vergangenheitsbeflissenen Besucher:innen und Gläubigen nicht. Es geht nur noch um die Vergangenheit, um Bewahrung, Beforschung, Präsentation und Vermittlung des Kulturerbes. Das Museum als Institution transsubtantiiert das Alltägliche, Nahe, in ein Fernes, Erhabenes, das mit musealen Riten verknüpft ist: Es gibt eine Kasse, es gibt Schließfächer, Audioguides oder Führungen, Absperrungen, die eine Distanzierung zeitigen. So nah das Ferne und Vergangene scheint, so fern ist es in seiner Nähe, weil es nicht mehr zu uns gehört und diese Fremdheit durch die Institution und die Dispositive, die Regeln des Museums unterstrichen wird. Anders verhält es sich in den nicht entfunktionalisierten Kirchen und Rathäusern. Sie gehören zum jeweils gegenwärtigen Lebensvollzug und sind in ihrer Ferne unendlich Nah, weil sie in gegenwärtige Handlungen eingebunden sind. Das Museum ist also eine Institution, die Ferne produziert, weil sie musealisiert, sie will Distanz und gründet strukturell und konzeptionell auf Distanz. Natürlich kann man auch sagen, diese Form der Musealisierung, diese Produktion der Distanz und Ferne trotz aller scheinbaren räumlichen Nähe, ist eines der großen wichtigen Prinzipien unserer modernen Gesellschaften, so erfolgt das Erinnern, so werden die Ziele und die Definition des Museums des ICOMs erfüllt. Im Museum wird das präsentierte Erbe erhaben. Kaum trauen wir uns räumlich in seine Nähe zu kommen. Wenn wir aber nicht-musealisiertem Kulturerbe gegenüberstehen, dessen Nähe spüren, dann werden wir erhaben, weil uns das Objekt erhaben macht, weil wir Teil seiner kontinuierlichen Geschichtlichkeit geworden sind und unsere Handlungen im Kulturerbe uns mit der Vergangenheit verbinden. Das Kulturerbe ist uns dort eben nicht museal entzogen und auch nicht seiner ursprünglichen ontischen Bestimmung entledigt. Das musealisierte und das nichtmusealisierte Erbe macht mit uns also Verschiedenes: es behandelt uns exklusiv beziehungsweise inklusiv. Ein bemerkenswerter Aspekt, der betrachtet werden muss, wenn wir ganz allgemein die Wirkungsweise des Musealen analysieren wollen, um so mehr, wenn wir über die Zukunft des Museums nachdenken wollen. Offenbar spielt die Kontinuität des Funktionalen des Kulturerbes eine erhebliche Rolle, wie wir das Vergangene erinnern. Das führt zum Museums-Paradoxon: Das Konzept des Museums entfremdet uns dem Vergangenen, obgleich es doch beabsichtigt, uns das Vergangene näher zu bringen. Das Museum produziert Ferne und beabsichtigt doch die Nähe. Genau hier möchte ich einhaken und nachfragen, ob denn das Konzept des Museums wirklich sinnvoll ist. Sein Ziel ist das Bewahren und die Vermittlung des Erbes, das Mittel ist die Musealisierung, also das Entfunktionalisieren und das auf-ein-Podest-heben, die Folge ist aber die Entfremdung der Besucher:innen von dem Erbe. In den letzten Jahren wurde deswegen mehr und mehr auf Partizipation gesetzt, auf Mitmachmuseen, um das ausgestellte Erbe in Handlungsabläufe der Besurcher:innen einzugliedern. Das geht allerdings nur bedingt. Eine Mona Lisa wird nie unter Museumsbesucher:innen herumgereicht werden, um Nähe, aber keine Begehrlichkeiten zu erzeugen. Genau an diesem Punkt sind wir beim Gegenstand, bei der Entität des Erbes, oder einfach gesagt beim Original und mit dem Original bei der Frage, was ist authentisch und welche Rolle spielen Originalität und Authentizität des Musealen? 

Das Originale 

Fast alle Museen versuchen Originale auszustellen. Originale locken Besucher:innen an, weil sie überzeugt sind, dass nur Originale das Bildungsleben bereichern. Wir verfügen über eine feste soziale Konstruktion und Wertigkeit, die das Originale zum höchsten aller Werte des Vergangenen machte. Diese Konstruktion ist jedoch nicht alt. Sie datiert auf das Ende des 19. Jahrhunderts. Wegen dieses Glaubens an das Original nehmen Menschen lange Wege zu Museen in Kauf, obgleich sie nie sicher sein können, das gewünschte Original im Original zu sehen. Sie müssen Expert:innen vertrauen, die ihnen bestätigen, dass das, was sie sehen das Original ist, obwohl selbst die Expert:innen nur nach bestem Wissen und Gewissen das Originale als Originales bezeichnen können. Das Original ist also eine Zuschreibung und der Glaube an das Original, macht ein musealisiertes Objekt erhaben und erzeugt im Museum die beschriebene Ferne. 

Wie ungelenk und wenig ansprechend der Begriff des Originals ist, zeigt eine kurze beispielshafte Analyse des Eiffelturms. Gefragt werden muss: Was ist das Original? Was macht das Original zum Original? Ist der Eiffelturm ein Original, Zeugnis einer auf fossilen Energieträgern ruhenden Industriekultur des 19. Jahrhunderts? 

Im ausgehenden 20. Jahrhundert war der Turm komplett erneuert worden, der ephemer nur für die Dauer der Weltausstellung 1889 gedacht gewesen war. Jede eiserne Strebe, jede Schraube, jede Mutter, jede Niete wurde ausgewechselt, um weitere 100 Jahre Standfestigkeit zu gewährleisten. Seitdem lässt sich die Frage stellen: Wie original ist der Eiffelturm? Gibt es nun zwei originale Eiffeltürme, wenn das alte Baumaterial des 19. Jahrhunderts wieder zu einem Turm zusammengesetzt und neben dem Turm aufgebaut würde? Der eine hat die originale Form, die originale Ästhetik, den originalen Bauplatz, aber nicht mehr die originale Materie, dafür die soziale Konstruktion und die formal-historische Kontinuität. Der andere verfügte über die originale Materie, die originale Form, die originale Ästhetik, aber er wäre transloziert, besäße nicht mehr den originalen Standort und seine Einheit bliebe nicht kontinuierlich erhalten. Die soziale Konstruktion wäre: „Dies ist der Turm, der aus den erodierten Bauteilen des Eiffelturms zusammengesetzt wurde. Betreten oder auch nur in seine Nähe kommen ist nicht zu empfehlen.“ Welcher Turm würde also das Prädikat original verdienen? Es ließe sich eine pragmatische Antwort geben: Den Touristen macht der Verlust der Materie des Eiffelturms nichts aus, die soziale Konstruktion und seine lokale Kontinuität, seine Ästhetik, seine Geschichtlichkeit sichern ihm die Zuschreibung des Originals zu. Sie stellen sich trotz der mangelnden originalen Materie in die langen Warteschlangen, um das klischeehafte Paris-Symbol Treppenstufe um Treppenstufe zu ersteigen oder sich körperlich wenig inkommodiert, wenn auch gedrängt, in Fahrstühlen nach oben befördern zu lassen. Für sie ist der Turm am richtigen Ort, das ist offenbar wichtig: am Champ de Mars en face à face mit dem Trocadéro. Der Ort, sein geografisch-städtebaulicher Kontext, seine Relationen, seine soziale Konstruktion, eine Kontinuität sind also mitunter entscheidend, nicht aber seine originale Materie. Ganz besonders ist die Indikation der Kontinuität, seine Form, seine Ästhetik und Funktion für die korrekte Zuschreibung des Originalen entscheidend. Hingegen würde der Turm aus den Originalmaterialien irritieren und wohl sogar auf Ablehnung stoßen, nicht nur wegen seiner erosionsbedingten Einsturzgefahr. Er trüge etwas Sekundäres an sich: Es wäre der Turm, der aus den ausgemusterten Baustoffen des Eiffelturms errichtet wurde, aber er ist nicht der Eiffelturm selbst, weil er diskontinuierlich ist, also keine Kontinuität formaler Einheit besitzt. Aber der Eiffelturm 1 existiert nicht mehr in seiner Unberührtheit: Das Paradoxon des Originals zeigt sich darin: Die Materie spielt eine untergeordnete Rolle. Vor der originalen Materie stehen die Werte, die das Argument der Berührtheit durch Sanierung in den Vordergrund stellt, zusammen mit dem Argument der Zeitautonomie und der Kontinuität. Dazu kommt noch ein weiteres Element, der richtige Ort, also das Argument des Topos. Er ist ein Garant für das Original. 

Somit ist das Problem des Originals das Problem der Materie im Verhältnis zu seiner sozialen Konstruktion. 

Dies sei nur ein Beispiel dafür, dass Materie, die mit dem Wort und Begriff des Originals im 20. Jahrhundert untrennbar verwoben wurde, keine große Rolle für das Original spielt. Wichtig ist das, was erzählt wird, die Narrationen, die Vermittlung des Wissens über einen Gegenstand, von dem eben „nur“ gesagt wird, dass er Original ist. Er kann auch nicht originaler werden als durch Sprache und durch sie vermitteltes Wissen und Indizien. Aber wenn wir vor einem berühmten Gemälde in den Uffizien oder vor der Mona Lisa im Louvre stehen, dann ergreift uns genau diese soziale Konstruktion, obwohl wir nicht sicher sein können, ob wir nun die originale Mona Lisa und den originalen Botticelli sehen oder nicht. Allein der Glaube an das Original ermöglicht das Gefühl einer Nähe zur erhabenen Ferne des weithin gelobten Kulturerbe-Objekts. 

Welche Ergebnisse können zusammengefasst werden: 1. Das Museum ist Vertrauenssache. 2. Das Original, das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert untrennbar mit der Materie verbunden war, ist kaum dienlich, die Phänomene des Musealen und des Denkmalschutzes zu erfassen. 

Deswegen wurde bereits in den 1970er Jahren durch die UNESCO der Begriff der Authentizität verwendet, der sich zwar an der Charta von Venedig orientierte, aber auch stets pragmatisch für das Welterbe eingesetzt wurde. 

Das Authentische

Wird nun das Originale durch das Authentische ersetzt, so beginnt ein Spiel mit der sozialen Konstruktion des Musealen. Durch das Authentische werden also ganz andere Konzepte des Musealen möglich. Doch noch einmal ein Blick auf das Original: Das Original definiert sich durch die Relation von Materie und Wissen über die Materie. Wenn ein Kulturerbe-Objekt identisch zu sein scheint mit dem Wissen über das Objekt, also von einer Korrespondenz von Materie und Sprache ausgegangen werden kann, dann sprechen wir von einem Original. Das  Objekt A = A`, das für das Wissen über A steht. Hingegen ist für das Authentische die Materie eines Objekts lediglich ein Indikator unter mehreren. Meine in den letzten Jahren an der Universität Augsburg entwickelte Authentizitätstheorie geht von sechs Authentizitätsmerkmalen aus: 

1. Wissen über eine Entität, also ein Kulturerbeobjekt. 

Das Wissen ist die übergeordnete, primäre Indikation. Ohne Erzählungen über ein Kulturerbeobjekt sind keine weiteren Indikationen möglich. Sie sind immer abhängig vom Wissen und damit sind alle weiteren Authentizitätsmerkmale sekundäre Indikationen: 

2. Der Ort. Kulturerbe wird durch den Ort authentisiert. Beispielsweise haben die Tempel von Abu Simbel etwas Sekundäres an sich, etwas Unauthentisches, weil sie transolziert wurden. Sie stehen nicht mehr an ihrem ursprünglichen Ort. Der Eiffelturm hingegen steht, obgleich er keine original-ursprüngliche Materie mehr besitzt, am richtigen Ort. Aber nur das Wissen über die Translozierung der Tempel von Abu Simbel macht sie bezogen auf den Ort unauthentisch. Wüssten wir nichts davon, würde der Ort uns als ursprünglich gelten, weil eine aufwändige Translozierung solcher gewaltigen Volumina für gewöhnlich ausgeschlossen werden kann. 

3. Die Materie. Wenn der Materie aufgrund der Überlieferung, also des Wissens, Ursprünglichkeit zugeschrieben wird, kann dem Objekt hohe Authentizität zugeschrieben werden. Materie ist der Ankerpunkt des Wissens. Über das Materielle findet Austausch und Kommunikation statt und insofern ist es in der Tat wichtig für die Authentizität des Objekts. Aber im Gegensatz zum Konzept des Originalen, ist die Materie im Konzept der Authentizität nur sekundär. Denn auch 

4. die Zeit ist ein Authentizitätsmerkmal. Wenn des Eiffelturms Materie auch noch so oft ausgetauscht wird, so bleibt er doch an seinem Ort und in seiner unverkennbaren Form. Er verfügt über zeitlich Kontinuität, ist in der Zeit und trotz des Verlusts der Materie, ist er der authentische Eiffelturm durch sein in-der-Zeit-sein. 

5. Historische Anmutung / Ästhetik. Die Form des Eiffelturms bleibt, er bleibt wahrnehmbar und wiedererkennbar. Er verfügt über ein Authentizitätsmerkmal der Ästhetik. Ebenso ist jede Rekonstruktion, beispielsweise das Berliner Humboldtforum, mit der Ästhetik-Indikation der Authentizität ausgestattet. Es gleicht sich an der Westfront den historischen Aufnahmen des Stadtschlosses an. Es verfügt also über eine ästhetische Authentizität. Ähnlich wäre es bei einer Kopie von Botticellis „Venus“ in den Uffizien in Florenz. Sie verfügte über ästhetische Authentizität. 

6. Abstraktion des Historischen / die Idee. Aber auch Anspielungen, Reminiszenzen an das historische Vorbild kann Authentizität erzeugen. Ein Beispiel ist die Münchner Pinakothek, die historische Ideen der ursprünglichen Pinakothek im Wiederaufbau nach der Teilzerstörung im Bombenkrieg wiederaufnimmt, ohne rekonstruierend zu wirken. Der Wiederaufbau der Pinakothek besitzt keine ästhetische Authentizität, sondern nur eine ideale. Ein weiteres Beispiel ist das ehemalige Kreiswehrersatzamt, der Nordriegel der ehemaligen Prinz Karl-Kaserne in Augsburg, am südlichen Ende der Bismarckstraße. Auch hier wurde nicht rekonstruiert, sondern die architektonischen Ideen des Kasernengebäudes des 19. Jahrhundertsaufgenommen und ausgespielt. Der östliche Flügelbau, von dem nur noch die Fundamente aus Ziegelsteinen erhalten waren, wurden durch eine zeitgemäße Abstraktion der Fassadengliederung des westlichen Flügels ergänzt. Die historische Idee, beispielsweise fassadengliedernde Lisenen, wurde abstrahiert und in zeitgemäße Gestaltung umgesetzt, ohne den historischen Gehalt zu reduzieren.

Keine dieser letztgenannten fünf Authentizitätsmerkmale kommen ohne das primäre aus: das Wissen und damit Sprache und Narrationen. Alle anderen Authentizitätsmerkmale sind Zuschreibungen, die in der sozialen Konstruktion des Erbes eingegliedert und damit vernetzt werden. 

Das ist mitunter deswegen interessant, weil sich im Zeitalter der Digitalisierung und der Krypto-Token sich ganz neue Möglichkeiten des Authentischen ergeben. So verkaufen beispielsweise die Uffizien in Florenz non-fungibel tokens für 140.000 Euro, also digitale Kopien ihrer Meisterwerke, die als Kryptowährung wie bitcoins funktionieren und dezentral in Blockchains abgespeichert sind. Die Materie spielt hier keine Rolle mehr, aber sehr wohl das Wissen, der Ort, die Zeit, die Ästhetik. Der Verkauf via Museumsshop wird Teil des Wertes des Krypto-token. Es hat unglaubliche Vorteile: Wer dieses einmalige Pixelwerk besitzt, benötigt keinen Ort mehr, um es auszustellen, nur eine Plattformm, um es adäquat und verknappend durch die Vergabe von Zugangsrechten zu hosten. Es können digital-authentische Werkausstellungen in Zukunft am Bildschirm betrachtet werden, Mobilität könnte im Sinne des Klimaschutzes eingeschränkt werden, wenn die Blockchains CO2-neutral gespeichert werden könnten. Neue Sammlungen werden entstehen und die Originale in den Museen verlieren ihre Bedeutung. Und diese non-fungibel tokens der Originale haben es in sich: Besser können Bilder nicht einmal im Original betrachtet werden. Der Ort des Kulturerbes löst sich auf und trotzdem wird der Wunsch entstehen, diese einzigartigen tokens zu sehen. Sie sind sicherlich keine schlechte Geldanlage, wenn die neuen digitalen Möglichkeiten des Museums mitgedacht werden. Wie gesagt, die Materie ist nicht wichtig für die Authentizitätsempfindung. Die Einzigartigkeit des Objekts sehr wohl. Das non-fungibel token verhält sich zum Original ähnlich wie der ursprüngliche Eiffelturm zum sanierten. Ein wichtiger Unterschied ist lediglich der Ort. Ein mobiles Bild benötigt keinen Ort. Als Authentizitätsmerkmal kann der Ort also nicht agieren. Beim Eiffelturm sehr wohl. Bei Bildern ist es wie bei allen Mobilien die Provenienz, die authentisierend wirkt. 

Der Ort

Ein wichtiger Schlüssel zum Musealen scheint der Ort in seiner Bedeutungslosigkeit, wie auch in seiner Bedeutungsfülle zu sein. Oft ist er bis auf die Narrationen und das Wissen als Authentizitätsmerkmal völlig aufgelöst, das trifft vor allem bei Museen zu. Museen, die Sammlungen von Originalen darstellen, verhalten sich zu ihren Ausstellungsobjekten wie der Münchner Tierpark zu Kängurus oder anderen Exoten: Wie ICOM schreibt, erwerben Museen, bewahren, beforschen, präsentieren und vermitteln das Erbe. Der Entstehungsort ist dabei oft nicht so wichtig wie die thematisch-diskursive oder chronologische Ordnung der Objekte. Bauernhofmuseen, eine Art Tierpark und Refugium für abrissgefährdete Bauernhäuser, sind Sammlungen von solchen entlokalisierten, translozierten Objekten, aber auch die Kunstmuseen und alle anderen Sammlungen, Bürstenmuseen, Frisurenmuseen, Handwerksmuseen. Bestenfalls wurden die ausgestellten Objekte legal erworben, manche wurden in Besatzungszeiten rechtlich fragwürdig deportiert. Das geschah nicht nur im 20. Jahrhundert, sondern auch im 19. Jahrhundert beispielsweise in Südtirol, als die bayerische Verwaltung vor allem sakrale Kunstwerke nach München verbrachten, wo sie bis heute im Nationalmuseum zu sehen sind. Andere Kunstwerke der großen Sammlungen wurden anderweitig fragwürdig erworben. Entstehungsorte spielen keine Rolle für Sammlungen, die über einen Warencharakter verfügen. Damit können sie gehandelt werden und bauen eher eine starke Beziehung zur Eigentümer:in des Kunstwerks als zum Ort auf. Das Nachweisliche in-der-Zeit-sein, das im Eigentümer:innenwechsel manifest wird, spielt bei Sammlungen eine gewichtige Rolle. Diese Provenienzhistorie ist bedeutender als der Entstehungsort. Das wird allerdings zu einem Problem, wenn das Erbe und sein Erwerb nicht mehr dem Ethos einer Zeit entspricht. Genau das erleben wir gerade in der Postkolonialismusdebatte. Dort führen viele Objekte zu einer Problemlagen. Wem gehört das Erbe? Den Nachfahren der Kolonialherren? Oder den Nachfahren der Bewohner der ehemaligen Kolonien? Völkerkundemuseen – wie momentan in der Debatte in Berlin – müssen sich positionieren und nicht nur sie. Laut der Charta von Venedig, dem Grundlagendokument für den Denkmalschutz, dürfen Kulturerbeobjekte nicht von ihrem Auffindungsort entfernt werden. Das würde mitunter bedeuten, das Museum sei der Auffindungsort, die Sammlung sei selbst schützenswert und sollte als Dokument der Zeiten nicht verändert werden. Die Sammlung wird damit selbst zum Authentischen der Summe der gesammelten Kulturerbeobjekte. Wie weit das gefasst wird, unterliegt der Interpretation und wird zwangsläufig Zielkonflikte provozieren. Das führt an die Grenzen der Museen und ihren Sammlungen – non-fungibel tokens wären dafür eine Lösung, doch auch mit ihnen treten rechtliche Probleme auf: Wer eignet die Rechte über digitales Eigentum, wer kann sie verkaufen? Wem gehört aus moralischer Perspektive der Erlös? Der Ort der Sammlung oder die Orte der Entstehung der Kulturerbeobjekte werfen das Problem der Grenze, der Einheit und der Rechtmäßigkeit auf. Sammlungen in der Postkonolonialismusdebatte und in der Zeit der Identitätspolitik müssten konsequenterweise überdacht werden und dem Ort als Authentizitätsmerkmal mehr Gewicht einräumen jenseits des Orts der Sammlung, also des Museums. Bis vor Kurzem galt vor allem die Sammlung und das Museum selbst als Kulturerbeobjekt, das die Summe seiner Teile weit übersteigt. In der nahen Zukunft dürften somit viele Sammlungen vor der Auflösung stehen. 

Andere Museen haben keine Probleme mit dem Ort, wie beispielsweise das Fugger- und Welser-Museum in Augsburg. Es verzichtet einfach auf alles. Es verfügt weder über das Authentizitätsmerkmal des Orts, noch der Zeit, noch der ursprünglich-historischen Materie seiner Objekte, aber es vermittelt Wissen ästhetisch, indem es das Wisssen mit historischer Ästhetik und historischen Ideen aufbereitet. Obwohl ihm alles abgeht, was ein Museum ausmachen sollte, ist es eines der meistbesuchten Museen Augsburgs, obgleich nur Wissen vermittelt wird und die Ästhetik der Ausstellungsobjekte Gefühle und historische Erfahrungen ermöglichen sollen. Diese Erlebnismuseen, wie das Fugger-und Welser Museum, sind eine Varianz des Erinnerns. Sie stehen hier als Beispiel, das völlige Inkohärenz und Bezugslosigkeit zu den Inhalten aufweist, die diese Museen vermitteln wollen. Trotzdem funktioniert das Museum als Ort historischen Erlebens und Erfahrens. Das kann durch den Ort als Authentizitätsmerkmal noch gesteigert werden. 

Während Museen den Ort nicht benötigen, um ihren vom ICOM festgelegten Aufgaben und Zielen gerecht zu werden, nutzen andere Formen des Musealen den Genius Loci, um Erinnern nicht nur als kognitiven Prozess zu verstehen, der in konstruierten thematischen Sammlungen präsentiert wird, sondern als emotionale Erfahrung, als historische Erfahrung, ähnlich wie das Fugger- und Welser Museum. Während das Augsburger Museum mit digitalen und analogen Großdioramen, also Szenen, die einen historischen Anschein vermitteln, Atmosphären generiert, die Besucher:innen Vergangenheiten erfahrbar machen, tun dies Gedenkstätten mit der Macht des Ortes. Darunter fallen die KZ-Gedenkstätten in Deutschland, Polen, Österreich, Frankreich, Niederlande, Litauen, Estland und Lettland. Die Orte des NS-Grauens sollen eine besondere emotionalisierende Form der Erinnerung ermöglichen. Bei ihnen spielen mehrere Authentitätsmerkmale eine gewichtige Rolle: Das Wissen, der Ort, die Zeit, die Ästhetik, untergeordnet auch die ursprüngliche Materie. Holocaust-Gedenkstätten verstehen Erinnerung als Erzeugung einer erdrückenden Nähe des Fernen, um das Grauen und das Leid der Opfer möglichst direkt erfahrbar zu machen. Die ehemaligen Konzentrationslager verfügen fast alle lediglich über geringe materielle Baubestände im Vergleich zur NS-Zeit. Die Häftlingsbaracken wurden ebenso wie die SS-Unterkünfte demontiert und nicht weiter erhalten. So wirken vor allem die beklemmenden Orte und das vermittelte Wissen in den angegliederten Museen und Dokumentationszentren die bestialisch menschenverachtenden Tötungsinstitutionen. Dabei fällt auf, dass beispielsweise in Auschwitz Häftlingsbaracken in unserer Gegenwart neu rekonstruierend errichtet werden. Mit diesen Rekonstruktionen wird auf die historische Ästhetik als Authentizitätsmerkmal gesetzt. Ähnlich in der Funktion wie die Dioramen im Fugger- und Welser-Museum, werden Räume konstruiert, die für Betrachter:innen bestimmte Atmosphären erzeugen, historische Erfahrung ermöglichen sollen, um die Nähe der Vergangenheit noch direkter spürbarer zu machen. Nichts bleibt in diesen Gedenkstätten von der Erhabenheit des entfunktionalisierten Musealen in den Museen. Das Ziel der Gedenkstätten besteht darin, mahnende Nähe zur Vergangenheit in den Besucher:innen zu generieren. Rekonstruktionen der Baracken sind unter anderem die Mittel dazu. Die Folge für die Besucher:innen ist ein Gefühl greifbarer Nähe der Vergangenheit, die jene Zeitspanne vom Holocaust zum jeweiligen Jetzt genauso überspringt wie die Überschreibungen, die durch die Entfunktionalisierung der Konzentrationslager entstanden ist. Sie negieren geradezu die Geschichtlichkeit und versuchen ein Synchronizität jenseits der distanzierenden, sachlich reflektierenden, wissenschaftlichen Museen zu erzeugen, eine Gleichzeitigkeit, eine Imagination der Perspektive der Lagerinsassen. Besucher:innen sollen die verflossene Zeit mit ihrem Besuch am Ort des Grauens zurückdrehen. Gedenkstätten sind somit emotionale Zeitmaschinen, die mit einem Minimum an Wissensvermittlung vor allem ästhetische visuelle und atmosphärische Erinnerung als synchrone Erfahrung leisten. Der Ort spielt wie bereits erwähnt eine herausragende Rolle, aber die ursprüngliche Materie, also das Original, ist nicht vordergründig wichtig, hingegen das Atmosphärische über die Wahrnehmung des Historischen in Form von Rekonstruktionen sehr wohl. Es ist eine Form der absoluten Partizipation am Musealen, die sich durch den Ort und die Wahrnehmung historischer Formen sowie vermitteltem Wissen formt, nur dadurch entsteht die beklemmende Nähe des Authentischen, dieses Gefühl, in der Vergangenheit aufzugehen, der linearen Zeitkonzeption zu entfliehen und im synchronen Zirkulären verfangen zu sein. Gedenkstätten wollen absolute Nähe erzeugen. Erstaunlich ist dabei, wo und warum sie gelingt. Es ist nämlich nicht der Fall, dass jedes ehemalige KZ-Lagergelände Nähe zum Grauen des Holocausts und der gesamten Vernichtungsmaschinerie des NS erzeugen kann. Es gehören bestimmte Produktionsweisen der Nähe dazu, die sich völlig anders gerieren als in Museen, obgleich es dieselben musealen Prozesse sind. 

Die Rolle der musealisierenden Entfunktionalisierung der Gebäude der Konzentrationslager und der Lagergelände ist entscheidend, ob Gedenkstätten Nähe zur Vergangenheit und historische Erfahrungen erzeugen können. Das heißt, nicht an allen Orten ehemaliger Lager funktioniert das Authentizitätsmerkmal des Ortes. Das wäre auch erstaunlich, bei der Quantität der Orte des NS-Grauens: Neben den Stammlagern gab es geschätzte 42.500 Außenlager und andere mit Konzentrationslagern verbundene Stätten, wie Produktionsstätten der Rüstungsindustrie. Wenn sie alle zu sakrosankten musealen Orte geworden wären, gäbe es überall dezentrale Orte des gedenkenden Erinnerns. Eine zugegeben reizvolle Idee. So aber wurden zentrale Orte geschaffen, die sich vor allem auf die Stammlager beschränkten, aber auch unter ihnen gibt es Ausnahmen. Viele von den geschätzten 42.500 Orten des NS-Konzentrationslagersystems sind heute zu Neubaugebieten geworden oder unterliegen vielfältiger Weiternutzung. Diese überschreibenden Neunutzungen werden unter anderem Palimpsest genannt. Palimpseste sind eigentlich mittelalterliche Schriftstücke auf Pergament. Pergament war sehr kostbar, deswegen wurde es Kreislaufprozessen unterzogen. Waren Texte nicht mehr wichtig, wurden sie vom Pergament abgeschabt. In der Folge konnte das Pergament neu beschrieben werden. So ein Palimpsestieren, als Metapher verwendet, findet unter bestimmten Voraussetzungen an Orten des Grauens statt. Beispielsweise in ehemaligen NS-Außenlagern wie in Kempten. Dort wurde im September 1943 ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau in den Shedhallen der Mechanischen Baumwollspinnerei und -weberei eingerichtet. Heute befindet sich darin eine außergewöhnliche, preisgekrönte, ästhetisch ansprechende Wohnanlage. Der Ort des Grauens wirkt hier nicht, er wurde überschrieben, ein Palimpsest. Für Stammlager gibt es ebenfalls ein Beispiel: Flossenbürg in der Oberpfalz. Das Konzentrationslager Flossenbürg ist nicht in einer Ebene gebaut, sondern liegt in einer sanften Talmulde. Am tiefsten Punkt befindet sich der ehemalige Appellplatz, an den Seitenhängen steigen Terrassen an, auf denen sich die Baracken der Häftlinge, aber auch der SS-Einheiten befanden. Die Terrassierungen wurden für ein Neubaugebiet der Kommune Flossenbürg genutzt. Etwas Ähnliches findet sich in Gusen bei Linz. Gusen war ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen. Auch in Gusen wurden die Lager Gusen I und Gusen II parzelliert und als Neubaugebiet ausgewiesen. Das sogenannte Jourhaus, das ehemalige Eingangsbauwerk der Gusener Lager, wurde zu einer luxuriösen hübschen Villa umgebaut. Die Dreigliedrigkeit bot sich an, den KZ-Eingang in ein Chalet zu verwandeln, auch wenn es ein wenig unorthodox aussieht, lässt sich die in Italien entwickelte Schlossarchitektur der Renaissance erkennen. 

Warum war es möglich, solche Orte des Grauens, mordende Tötungsinstitutionen des NS-Terrors zu palimpsestieren? Blicken wir zuerst nach Kempten. Die in den 1880er Jahren errichtete Sheddachhalle, ein Klinkerbau am linken Illerufer, war somit keine genuine NS-Lagerarchitektur, sondern ein industrieller Zweckbau, der überall in seiner Entstehungszeit in Europa ähnlich verwirklicht wurde. Das KZ-Außenlager Kempten zog nur für kurze Zeit in das Bestandsgebäude ein und wurde im April 1944 in die nahe Tierzuchthalle aus den 1920er Jahren verlegt. Heute wird sie Allgäuhalle genannt. Auch sie wurde mehrfach palimpsestiert. Es wird noch an die Funktion als KZ-Außenlager in beiden Fällen erinnert, aber das Leid der Menschen wurde, wie im Fall der Mechanischen Baumwollspinnerei und -weberei, in das Glück des Eigenheims konvertiert. Das konnte geschehen, weil die Spinnerei und -weberei sehr schnell wieder in alltägliche Handlungsabläufe integriert wurde. Die textilindustrielle Nutzung konnte bereits 1949 bis 1991/92 fortgesetzt werden. Von 1945-1949 wurden in den Gebäuden in Kempten vertriebene Deutschstämmige, aber auch Kolloborateure interniert. Der Ort des Grauens ging in der konsequenten Weiternutzung der Textilbranche auf. Der Palimpsest wirkte, der Ort als Authentizitätsmerkmal konnte sich im Wissen, also in der sozialen Wirklichkeit der Kemptner:innen nicht verfestigen. Deswegen war es möglich, daraus einen zeitgemäßen attraktiven Wohnort zu gestalten. Hätten Interessensgruppen in Kempten auf eine Gedenkstätte gedrungen, wäre das Wissen über das KZ-Außenlager Kempten in die soziale Wirklichkeit der Kemptener:innen eingegangen, hätte eventuell der Ort nicht umgenutzt werden können. 

Es sind immer die Narrationen und ihre Wirkmächtigkeit, die zur Musealisierung also Entfunktionalisierung von Orten und Gebäuden führen. Ähnlich verhält es sich im KZ-Flossenbürg. Dort wurden die SS-Mannschaftsbaracken und die angrenzenden Häftlingsbaracken in ein Neunbaugebiet am Ende der 1950er Jahre konvertiert. Das lag ebenfalls an der konsequenten Weiternutzung des Lagergeländes für gewerbliche Zwecke. Im April 1945 befreite die US-Armee das KZ-Flossenbürg. Zuvor wurde das Lager weitgehend mit den Mitteln der Todesmärsche evakuiert. Von April 1946 bis Oktober 1946 wurde das Lager für polnische DPs benutzt. Im Mai 1945 und September 1946 wurden die Gedenkorte errichtet, zuerst ein Ehrenfriedhof und dann die Gedächtniskapelle. Die Erinnerung bekam damit einen ästhetischen Rahmen außerhalb des ehemaligen Lagergeländes. Ab 1948 zogen Geflüchtete und Vertriebene aus Schlesien und Böhmen in die Lagergebäude. Die Kommune Flossenbürg versuchte sehr früh vom Freistaat Bayern Flächen des Lagers als eine Art Entschädigung für die Rufschädigung durch das Konzentrationslager zu erhalten. Die Gebäude um den Appellplatz wurden in den 1950er Jahren gewerblich genutzt. Damit vollzog sich ein Palimpsest, der das Konzentrationslager bis auf die Gedächtnisorte verschwinden ließ. Erst ab 1995 wurde die Gedenkstätte Flossenbürg errichtet. Letztlich lag dieser späte Zeitpunkt auch daran, dass es keine Opferverbände wie beispielsweise im KZ Dachau gab, die auf eine Gedenkstätte gedrungen hätten. Ähnlich verhält es sich in Gusen, dem Außenlager von Mauthausen bei Linz. Auch dort wurde in den ehemaligen Lagern Gusen I und Gusen II konsequent eine Palimpsestierung verfolgt. Das Lagergelände wurde parzelliert, die Grundmauern der Baracken für die Fundamentierung von Eigenheimen genutzt oder als Baumaterialien für Häuser und Einfriedungen verwendet. 

Daraus lässt sich ableiten: Wenn ein Ort, wie diese Orte des Grauens, nicht aus weiteren Handlungsabläufen des alltäglichen Lebensvollzugs herausgehalten wird, also eine Entfunktionalisierung, Sublimierung und damit Musealisierung stattfindet, wirkt der Palimpsest gegen die Erinnerung. Die Orte werden vom Grauen befreit, weil das Grauen überschrieben wird, verdrängt aus der sozialen Wirklichkeit. Darin zeigt sich wie wichtig letztlich nur das Wissen als Authentizitätsmerkmal ist. Andererseits zeigt sich aber auch deutlich wie wichtig der Erhalt historischer Materie und historische Ästhetik für das Erinnern ist. Fallen sie weg, findet das Wissen keinen Ankerpunkt, verflüchtigt sich die soziale Konstruktion. Da können auch keine Gedenksteine oder ausführliches Tafelwerk mit mannigfaltigen Informationen helfen. Die Präsenz des Authentischen – egal wie es konzipiert wird – ist materiell notwendig, um eine Atmosphäre des Historischen zu konstituieren, damit Erinnerung und das Museale seinen Platz findet. Historische Erfahrung, so wie sie in Gedenkstätten ermöglicht wird, ist wohl der zeitgemäße Zugang zur Erinnerung und das zeitgemäße museale Mittel in einer ikonischen, bildgewohnten und bildverwöhnten Gesellschaft. Museum benötigt Partizipation das Original ist dabei unwichtig. Ansonsten wirkt der Palimpsest und der Palimpsest legt es darauf an, das Vergangene unsichtbar zu machen. Das betrifft sogar die Orte des Grauens der NS-Gesellschaft.

Fazit 

Was lässt sich aus dieser musealen Gemengenlage ableiten? Die Ziele des Musealen, Sammeln künstlicher Welten, Erinnerung, Forschung, Bildung, Aufklärung, historische Erfahrung, empathisches Einfühlen benötigen bestimmte Authentizitätsmerkmale. Um die Ziele des Musealen zu verwirklichen, benötigt das Museale keine Originale, also das Authentizitätsmerkmal der ursprünglichen Materie. Es benötigt keine Orte, sondern eine unbestimmte materielle Form, an der sich das Wissen verankern lässt und projizieren lässt. Das können einzigartige non-fungibel tokens von Gemälden sein, die als Blockchains vorliegen und ungemein viel Energie verbrauchen, aber auch Orte, Rekonstruktionen historischer Wahrnehmung oder auch nur abstrakte Formierungen von historischen Ideen. Museen stehen zukünftig vor vielen Herausforderungen, wie die Pandemie zeigte. Die Klimakrise wird auch ein Umdenken der Museen erfordern. Mobilität wird in Frage gestellt, das Reisen, das die Grundlage für Museumsbesuche und deren Ökonomie darstellt. Die Postkolonialismusdebatte ist die nächste Herausforderung. Wie lässt sich also das Museale neu denken? Wir benötigen Authentisches um zu erinnern, aber wie ich zeigte, ist das Authentische nicht identisch mit dem Original. Es ist lediglich eine materielle Konfiguration für die soziale Wirklichkeit, von der sozialen Wirklichkeit für deren Stabilisation. Die zukünftige Aufgabe ist es, aus diesen Prinzipien des Musealen neue Zugänge und Formen des Musealen zu schaffen. – Ohne Partizipation und Empathie wird das Museale erst einmal nicht auskommen. 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 

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