Die Authentische Stadt. Alois Riegl in der Klimakrise
Vortrag am 12. November 2020 KuK-Kolloquium
von
PD Dr. habil. Stefan Lindl

Einführendes Plädoyer für die Environmental Humanities
Die Klimakrise, auch wenn von der Coronakrise momentan überlagert, ist ein dringliches, weil existentielles Problem. Diese Aussage ist banal, aber sie muss hier am Anfang stehen. Zu deutlich trat in den letzten Jahren unsere Vulnerabilität zu Tage. Doch in den letzten Monaten ist Covid-19 ein Symbol globaler Probleme geworden, das gigantische Wohlstandswerte innerhalb weniger Wochen vernichten kann. Somit wirft diese globale Herausforderung seine Schatten auf die ebenso globalen Auswirkungen der Klimakrise. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die Kosten des anthropogen verursachten Klimawandels alle Vorzüge des auf karbon-fossilen Energieträgern beruhenden Wohlstands hinwegstürmen und -spülen werden. Vom prognostizierten Leid der Menschen ganz zu schweigen. So werden die Rufe lauter: Metanoia! Umkehr! Der vieldiskutierte grundlegende Wandel unseres gesamten Lebensvollzugs, betrifft vor allem dessen energetische Grundlage, daraus folgend das Mobilitätsverständnis, Konzepte urbanen Wohnens, Arbeitens und urbane Resilienzstrategien. Klimaschutz muss geographisch global auf allen Ebenen erfolgen. Auch das ist eine banale Aussage, weil sie seit drei Jahrzehnten oft wiederholt, aber bislang noch nicht ausagiert wurde. Aber solch ein radikaler Wandel, der auf den ersten Blick die Téchne herausfordert und damit die Naturwissenschaften als Leitwissenschaften zu legitimieren scheint, darf eines nicht vergessen: das Kulturerbe. Und dafür sind die Kultur- und Geisteswissenschaften die Leitwissenschaften. Was die Menschheit geschaffen hat, darf nicht aus technisch-pragmatischen Gründen geopfert werden. Jedoch scheint Kulturerbe unter einem reduzierten Blick des Klimaschutzes eher Störfaktor zu sein: Es befördert die Mobilität wegen des Tourismus und damit die CO2-Emissionen. Bezogen auf alte Bauwerke, ist deren Energieverbrauch prima vista nicht vermittelbar. Eine einfache Rechnung lautete also: Weg damit! Reißt die Kathedralen der Vergangenheit ein und baut energetisch sinnvoll und CO2-neutral.
Klimaforschung, besonders auch Urbanitätsforschung sowie auch das weite Feld der Urbanen Resilienz, kann nur reduzierte Erkenntnisse produzieren, wenn Geistes- und Kulturwissenschaften außen vor bleiben. In mehreren konkreten Projekten der Stadtentwicklung und der Renaturalisierung von Flüssen habe ich selbst erfahren dürfen, dass Naturwissenschaften im Glauben an Daten agieren und teils völlig unsinnig argumentieren, weil sie schlichtweg für die historische Grundlage blind sind. Ich spreche hier aus einer Position der anwendungsorientierten historischen Regionalforschung und möchte eine Forderung klar zum Ausdruck bringen: Klimaforschung muss, wenn sie gelingen will, und sie muss gelingen, ein transdisziplinäres Projekt werden. Alle wissenschaftlichen Disziplinen müssen im steten Austausch mit Politik, Wirtschaft, NGOs und Kulturschaffenden stehen. Kultur- und Geisteswissenschaften sind alles andere als irrelevant in diesen Prozessen. Diesem Ziel hat sich ein Forschungsschwerpunkt der Universität Augsburg verschrieben, die Environmental Humanities. Ihnen lässt sich dieser Vortrag zuordnen: „Die Authentische Stadt. Alois Riegl in der Klimakrise.“ Der Wiener Kunsthistoriker, beziehungsweise Kernstücke seines Werks, werden hier als Ausgangspunkt genommen, um genau das zu zeigen, was ich fordere: Geistes- und Kulturwissenschaften können einen aktiven Beitrag zu Klimaschutz und zur Urbanen Resilienz leisten.
Zusammengefasst geht es mir um ein geisteswissenschaftliches Leitbild für Stadtplanung und Stadtentwicklung, das Leitbild der „authentischen Stadt“. Dabei wird der Kulturerbebegriff ausgeweitet auf die gesamte kulturelle Produktion. Das hier angesprochen Kulturerbe verweist jedoch ausschließlich auf Architekturen. Gebäude sollen nach Möglichkeit weitergebaut, nicht abgerissen und nicht durch Neubauten erstsetzt werden. Ziel ist es, CO2-Emissionen durch Bewahrung von Kulturerbe zu reduzieren, historische Werte zu erhalten und sogar zu schöpfen, um Städte mit einer möglichst breiten und weiten historischen Dimension anzureichern. Das Schlagwort kulturelle Nachhaltigkeit darf hier fallen, aber auch urbane Resilienz: Geschichte wird als urbaner Wertschöpfungsprozess dargestellt, um Einzigartigkeit und Authentizität der Städte zu fördern. Daraus formuliert sich Differenz zu anderen urbanen Räumen. Geschichte ermöglicht Unterscheidbarkeit und Identität. Für die Ökonomie und die Ökologie ist das ein Vorteil, aber auch für das, was wir alle suchen und momentan arg vermissen: the good life. Gutes urbanes Leben steht und fällt mit Kultur, Kunst, Musik, Theater, Literatur, Ess- und Trinkkultur, sowie mit dem Kulturerbe, das den architektonischen Rahmen bietet. Das Leitbild „Authentische Stadt“ möchte zweierlei erreichen: Reduktion von CO2-Emissionen und Behagen und Wohlbefinden in der Stadt, das sind weiche Faktoren Urbaner Resilienz. Im wissenschaftlichen Diskurs Urbaner Resilienz sind diese weichen Faktoren bislang kaum berücksichtigt worden. Erst in den letzten Jahren sind Publikationen dazu entstanden beispielsweise von Roland Benedikter und Karim Fathi. Der Vorschlag, wie sich das Leitbild der authentischen Stadt in Strukturvorgaben für Stadtplanungsverfahren umsetzen lässt, beschreibe ich mit einem Kategoriensystem historischer Werte, die es im städtischen Bestand zu suchen und zu fördern gilt. Sie entspringen wiederum dem universellen Denkmalbegriff Alois Riegls. Damit wurde der Kunsthistoriker und Mitbegründer der Wiener Schule der Kunstgeschichte, der 1858 in Linz geboren worden war und 1905 in Wien verstarb, hinein in die Klimakrise geholt, die zu seiner Lebenszeit erst ihren Anfang nahm. Die Erderwärmung und Teile ihrer Auswirkungen war bereits zu Riegls Zeiten bekannt. Dieser Vortrag bezieht sich auf eine kürzlich erschienene, von der Stadt Wien geförderte Publikation: „Die authentische Stadt. Urbane Resilienz und Klimakult“.
Das Klimaproblem und das Leitbild der Authentischen Stadt
Warum sollte ein aus Kultur- und Geisteswissenschaften gewonnenes Leitbild für die Stadtplanung dem Klimaschutz dienen können? Um diese Frage zu beantworten, hilft ein Blick auf die Baubranche und auch auf die Normative der UN und der EU.
Keine andere Branche emittiert so viel CO2 und produziert zugleich so viel Müll wie die Baubranche innerhalb ihrer noch immer vorherrschenden Kultur des Neubauens. Der Einsatz von Beton ist einer der größten Klimakiller schlechthin. Tiefgaragen, die wegen der Stellplatzverordnungen, einem Gesetz, das auf das Jahr 1939 im NS zurückgeht, unumgänglich scheinen, sind für eine fatale Menge an CO2 Emissionen verantwortlich. Bauphysiker sagen: Was aus Fundamentierungen wie Tiefgaragen emittiert, kann die beste ökologische Bauweise am Gebäude nicht mehr einsparen. Das bedeutet: Wenn sie mit Beton bauen, und vorhaben, das Bauprojekt mit den Labels ‚klimaneutral‘ oder ‚ökologisch‘ zu versehen, dann ist dies ethisch nicht tragbar. Aber Neubauten brauchen wegen der gesetzlichen Verordnungen Stellplätze. Darin wird die Komplexität offenbar: Stellplatzverordnungen beruhen auf Mobilitätskonzepten des Individualverkehrs. Erst neue Mobilitätskonzepte und neue Verordnungen könnten dazu führen, den Betoneinsatz zu vermindern. Dafür sind wiederum die Gesetzgeber und in der Folge Stadtparlamente verantwortlich. Natürlich beschwert sich dann diejenige Lobby, die bereits 1939 für die Reichsgaragenordnung zuständig war: die deutsche Automobilwirtschaft, namentlich Volkswagen. Die Reichsgaragenordnung ist die bauliche Grundlage schlechthin für unser inzwischen überkommenes Mobilitätsverständnis. Aber wenn wir an dieser Stellschraube drehen, hat das enorme volkswirtschaftliche Auswirkungen und bringt, wenn nicht gleichzeitig neue prosperierende Wirtschaftszweige gefördert werden, den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland in Gefahr. Um Klimaschutz in der Baubranche zu ermöglichen, muss folglich ein radikales und konzertiertes Umdenken einsetzen auf legislativer, juristischer, technischer, ökonomischer, sozialer und administrativer Ebene erfolgen. Aber schon ohne legislative Neuerungen, können diese Mechanismen ausgehebelt werden: Der Erhalt von Bestandsbauten ermöglicht schon jetzt eine Abkehr. Denn er befreit von der Stellplatzverordnung und damit lässt sich Betoneinsatz massiv einschränken. Das ist sogar für Investoren in der Bauwirtschaft attraktiv. Das reicht aber natürlich nicht. Es müssen weitere Kreislaufprozesse implementiert werden, Recycling von Baustoffen und das Schlagwort Cradle-to-Cradle, das auf CO2-neutrale Baustoffe verweist, aber vor allem die Totalverwertung von Baustoffen anstrebt. Das geht mit Beton nicht, den können wir bislang nur deponieren. Kurzum, die Bauwirtschaft muss sich ändern. Aber sie hätte heute schon einen Spielraum: den Erhalt und die bauliche Weiterentwicklung von Bestandsarchitektur.
Eine weitere Herausforderung neben der wenig erquicklichen Situation in der Baubranche ist die fortschreitende Urbanisierung. Seit dem Jahr 2008 wohnt über die Hälfte der Menschheit in Städten. In den Industrieländern liegt die Zahl der Stadtbewohner weit über dem globalen Durchschnitt: in Deutschland 77 %, in den USA über 82 %. Die UNO geht von einer fortwährenden Urbanisierung vor allem in Asien und Afrika aus. Laut einer Schätzung wird sich die weltweite Stadtbevölkerung bis 2050 durch Migration und Binnenmigration verdoppeln. Politik und Baubranche müssen klimafreundlich reagieren. Weiterbauen ist eineLösung, die übrigens bis zur industriellen Revolution in den Städten Europas gang und gäbe war. Erst mit dem fossilen Zeitalter ist die Abrissbirne überhaupt eine Option geworden. Davor erfolgten Abriss und Abtransport in mühevoller Handarbeit, die gemeinhin vermieden wurde, weil sie schlichtweg zu teuer war. Auch die Kultur des Neubauens ist somit ein fossiles Kind der CO2-Emission.
Auf diese Urbanisierungs-Prognosen der UNO antworteten in den letzten 13 Jahren die Europäische Union und UN-Organisationen. Einschlägig ist die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen Stadt“ von 2007, in der sich die damaligen EU-Mitgliedstaaten für den Erhalt und die Weiterentwicklung des baulichen Erbes ausgesprochen haben. Darauf folgte 2015 die UN-Resolution 70/1 „Transformation unserer Welt: Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“. Deren sehr allgemeine Vorgaben wurden in der New Urban Agenda – Habitat III der Quito-Conference im Oktober 2016 konkretisiert.
In der New Urban Agenda heißt es beispielsweise:
„Wir werden die effektive Nutzung des kulturellen Erbes für die nachhaltige Stadtentwicklung fördern und erkennen seine Rolle bei der Förderung von Teilhabe und Verantwortlichkeit an. Wir werden die innovative und nachhaltige Nutzung von Baudenkmälern und architektonischen Stätten unterstützen, mit dem Ziel der Wertschöpfung durch respektvolle Wiederherstellung und Anpassung.“
Die Globalität dieser Absicht wird im Folgenden deutlich.
„Wir werden geplante Stadterweiterungen und -verdichtungen fördern und dabei die Erneuerung, Wiederbelebung und Sanierung städtischer Gebiete priorisieren soweit angemessen, einschließlich der Sanierung von Slums und informellen Siedlungen.“
Die Leipzig-Charta wird für Europa explizit:
„Baukultur ist eine Notwendigkeit für die Stadt als Ganzes und deren Umgebung […] Dies gilt insbesondere für die Bewahrung des baukulturellen Erbes. Historische Gebäude, öffentliche Räume und deren städtische und architektonische Werte müssen erhalten bleiben.“
Die Bundesrepublik hat sich in der New Urban Agenda mit 138 weiteren Staaten dazu verpflichtet, die Ziele umzusetzen. In der Leipzig-Charta war sie federführend. Trotzdem werden heute Bestandsbauten reihenweise abgerissen, um Neubauprojekte zu verwirklichen. Augsburg ist darin alles andere als eine rühmliche Ausnahme. Beispielsweise wurde vor kurzem der Baurestbestand der Reese-Kaserne vernichtet. Kempten, eine schwäbische Stadt vielfältiger Bausünden und Abrissgelüste im 20. Jahrhundert, veränderte sich dagegen zu einer beispielhaften Kommune der Bestandsentwicklung. Mit viel Einfallsreichtum wurde dort das Textilviertel im fortgeführt. In Nördlingen findet in wenigen Minuten eine Sitzung des Bauausschusses statt. Dort wird die Stadtviertelentwicklung eines ehemaligen Brauereigeländes verhandelt. Strukturvorgaben zur zweiten Entwurfsplanung dieses Viertels wurden dem Leitbild der ‚authentischen Stadt‘ entlehnt. In dieser Entwurfsplanung sollte weitgehend der Baubestand erhalten bleiben. Eine durch die Stellplatzverordnung notwendige großflächige und die Stadtmauer gefährdende Tiefgarage wurde durch die Bestandserhaltung auf ein Minimum verkleinert.
In einem kleinen Rechenbeispiel lässt sich zeigen, wie sinnvoll es wäre, bauliches Kulturerbe zu erhalten: Wenn wir uns hypothetisch überlegten, einen Altbau abzureißen, um neu zu bauen, dann muss die sogenannte Graue Energie des Neubaus ermittelt und berücksichtigt werden. Die Graue Energie ist die verbrauchte Energie für die Errichtung und den Erhalt des Altbaus + die aufgewendete Energie für dessen Abriss und die Deponie + die gesamte aufgewendete Energie des Neubaus. Wird mit dieser Grauen Energie gerechnet, ließe sich der Altbau energieineffizient über viele Jahrzehnte weiterbetreiben, bevor der Energieverbrauch des Altbaus mit der verbrauchten Grauen Energie des Neubaus gleichauf ist. Energieverbrauch bedeutet selbstverständlich entsprechende CO2-Emissionen.
Wenn nun aber der Altbau in ein Neugestaltungskonzept eingebunden wird, fällt die Energiebilanz wesentlich besser aus. Altbauten zu belassen oder anzupassen bedeutet, einen aktiven Beitrag zum Klimaschutz und gleichzeitig zum Erhalt von Kulturerbe zu leisten. Dafür tritt das Leitbild der ‚Authentischen Stadt‘ ein. Durch den Erhalt von Baubestand ist Klimaschutz gewährleistet, aber es entsteht gleichzeitig ein einzigartiger geschichtsträchtiger, nicht reproduzierbarer urbaner Raum, den wir authentisch nennen könnten. Aus dem oft unscheinbaren Baubestand soll durch das Leitbild das Authentische des urbanen Raums – seine Geschichte und seine Einzigartigkeit – mit Hilfe historischer Werte entwickelt werden. Durch einen performativen, intentionalen Akt findet die Authentisierung dieser Räume statt. Das heißt, sie müssen durch geschichtswissenschaftliche Archivarbeit, durch kunsthistorische Expertise und mit ein wenig Verständnis für die Sprechakttheorie zum Authentischen gemacht werden, das eine epistemische, ökologische und ökonomische Bereicherung für jede Stadt ist. Das Leitbild der authentischen Stadt beruht also auf einem Stadtentwicklungsverfahren sozialer Konstruktion. Während die Bauwirtschaft plant, simuliert, im Boden wühlt, Schalungsbretter montiert, Armierungen biegt, Beton gießt, Müll produziert, um die Wirklichkeit dinghaft voranzubringen und Werte zu schöpfen, und parallel unser Klima zu opfern, baut die geisteswissenschaftliche Baugemeinschaft in den Gehirnen einer Gesellschaft auf den Brachen des Unbewusste an einem urbanen Raum der Signifikanten, der Wissensformationen, der Zeitdimensionierungen und -schichtungen. Kognitive Stadtentwicklung, epistemische Stadtentwicklung wären Labels für diese Art des Städtebaus. Doch um diese Stadtentwicklung im Dinglichen zu verankern, benötigt man Signifikanten, (landläufig: Zeichen). Und die bekommt man, wenn bauliches Kulturerbe erhalten und weiterentwickelt wird. An dinglichen Signifikanten hängt die Authentische Stadt. Deswegen lautet ihr Grundsatz: Weiterbauen statt Neubauen!
Was ist Kulturerbe? Was ist Kultur?
Schon so oft fiel das Wort Kulturerbe, sein Begriff wurde angedeutet, blieb jedoch unklar. Von Ausweitung sprach ich. Kultur wird hier als eine sich wandelnde Umwelt verstanden, in der jeder Bereich des Lebensvollzugs eine bestimmte zeittypische Ausrichtung bekommt. Kultur ist also eine zeitautonome Erscheinungsform, hat Ähnlichkeiten mit der Foucaultschen episteme, dem historischen a priori, auf dem alle kulturellen Äußerungen einer Zeit beruhen. Die Kultur entwickelt innerhalb einer bestimmten Zeitspanne ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, generiert ihre Unverkennbarkeit in Sprache, Wirtschaft, Politik, Jurisprudenz, Religionsausübung, Sport, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaften, Ingenieurswesen, Produktdesign, Mode, Ernährungsgewohnheiten, Administration etc. etc. Folgerichtig nenne ich alle Produkte dieser Bereiche das Kulturerbe. Es gibt dabei keine Hierarchisierungen von Hochkulturerbe, Alltagskulturerbe und Subkulturerbe. Alles was davon auf den konstruierten Zeitzusammenhang gekommen ist, den wir Gegenwart nennen, bezeichne ich als Kulturerbe. Hier in diesem Vortrag, geht es vor allem um architektonisches Kulturerbe, also um Altbauten jeglicher Art, wie gesagt, ohne eine Hierarchisierung vorzunehmen. Damit verweise ich schlichtweg auf alles Bestehende: Plattenbauten, Kathedralen, Transformatorenhäuschen, Siedlungshäuser. Und gerade die banalen Bauwerke sind es, die ich als erhaltenswert erachte, obwohl sie oder gerade, weil sie fern des Denkmalschutzes stehen. Für den Klimaschutz sind sie jedoch mehr als relevant und darüber hinaus erfüllen sie weitere wichtige Aufgaben. Sie verfügen über Mikro-Geschichte, sind bauliche Spur einer Vergangenheit mit einer spezifischen kulturellen Umwelt, die verschwunden ist. Diese historische Spur ermöglicht eine Raum-Zeit-Positionierung. Architektursoziologisch hat das Historische eine nachhaltige Wirkung auf Stadtgesellschaften. Altbauten, wenn sie erst als Altbauten und damit als Wert bewusst gemacht worden sind – und genau diese Bewusstwerdung propagiert das Leitbild Authentische Stadt –, sind beliebt, sind durch Sprache als Vergangenes in Gegenwart integriert fördern Identität und Wohlbehagen. Dazu ein Beispiel: In den 1960er Jahren wurde diskutiert Regensburg, das ganz gut durch den Bombenkrieg gekommen war, abzureißen. Ebenso gab es Anträge das Augsburger Handwerks- und Gerberviertel, das Lechviertel dem Erdboden gleich zu machen und wohl geordnete Wirtschaftswunderbauwerke mit geregelten schön breiten Straßen anzulegen. – Wie fühlt sich dieser Gedanke für Sie an? Können Sie erahnen, wie wichtig Altbauten, allgemeine Bestandsbauten, für die Atmosphäre einer Stadt sind? Wie cool sind ehemalige Gaswerke, wie eignet sich ihre Umnutzung für die Produktion und Performanz von Kunst, Musik, Literatur. In Berlin gibt es das Radialsystem, ehemals ein zentraler Punkt der Kanalisation der Stadt, an dem die Abwässer gesammelt wurden, um sie auf die städtischen Rieselfelder zu leiten. Heute erklingt dort neue Musik an der Spree. Städte und Stadtviertel mit Altbauten sind Motoren des Tourismus und auch die Immobilienwirtschaft lebt gut von Geschichten über Häuser. Geschichte ist eine Form der Wertschöpfung urbaner Räume, historische Werte sind das Kapital einer Stadt.
Zusammenfassend möchte ich hervorheben: Kulturerbe zu erhalten, hat einen Nutzen für den Klimaschutz durch die Einsparung von CO2 und es produziert Lebensqualität eines urbanen Raums, der maßgeblich auf Kulturproduktion und dem Erhalt von Kulturerbe beruht. The Good life ist ein sozialer Motor, der mitunter durch das Leitbild der authentischen Stadt solar betrieben wird.
Dekonstruktion des Originals und das Authentische
Auf all das antwortet das Stadtentwicklungs-Leitbild „Authentische Stadt“ mit einer in der Tat weiten Auffassung, was kulturelles Erbe und Baudenkmäler sind. Für mich ist es ein Gebot der Stunde alles, restlos alle Zeugen vergangener kultureller Umwelten darunter zu subsummieren. Alles sollte auf seine Weiterentwicklung und seine Graue Energie und die Möglichkeiten, urbane Räume historisch zu dimensionieren, untersucht werden, historischen Wert zu schöpfen und dadurch Authentizität zu generieren. Aus eigener Gutachtertätigkeit heraus weiß ich inzwischen, dass die Weiterentwicklung und Sanierung von Bestandsgebäuden nicht nur Wunschdenken eines Geisteswissenschaftlers sind, sondern sich schlicht und ergreifend rechnen. Es können nicht nur CO2-Emissionen, sondern auch Investitionssummen eingespart werden. Allen Widerreden aus den Stadtverwaltungen und Baureferaten, die meist Neubauten bevorzugen, zum Trotz. Es fehlt meist nur der Mut für das Neue im Alten.
Doch wie genau geschieht das? Wie vollzieht sich eine Stadtentwicklung sozialer Konstruktion? Dazu schlage ich vor, zuerst ein Wort und dessen Begriff zu dekonstruieren, das den Denkmalschutz und allgemein unsere Beziehung zu Historischem definiert: das Original. Mit ihm kommen wir zu Alois Riegl, er hat das Original einerseits verteidigt, andererseits bereits schon begonnen, es erodierenden Prozessen auszusetzen. Historisch gesehen ist das Original im Bauerbe eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die sich aber erst kurz vor 1900 als allgemeiner Wert durchgesetzt hat. Vorher hat der sogenannte ‚Denkmalschutz‘ oder die ‚Generalkonservatorien‘ in Mitteleuropa Originale vor allem zerstört. Glauben Sie Notre Dame de Paris sei ein mittelalterliches Original, das im letzten Jahr durch einen Brand teilweise vernichtet wurde? Nein. Das meiste, das in Flammen aufging, stammte aus dem 19. Jahrhundert. Die originalen historischen Bauteile, die Notre-Dame bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt hatten, wurden vom leitenden Architekten, Éugène de Viollet le Duc, abgerissen. Glauben Sie die Welfenburg Dankwarderorde in Braunschweig, von Heinrich dem Löwen, sei ein romanisches Kleinod? Nein, es ist eine Komplettzerstörung romanischer Baurestsubstanz mit anschließendem Fantasieneubau von Ludwig Winter um 1900. Originaler Bestand spätgotischer Pfarrkirchen in Bayern, in Schwaben und auch in Baden wurden bis zu 85 % im 19. Jahrhundert zerstört. Erst ca. 1890/95 setzte ein Umdenken ein.
Die Erfinder und Wegbereiter des Originalen heißen Georg Dehio im Großherzogtum Baden, Georg Hager im Königreich Bayern und Alois Riegl in Österreich-Ungarn. Intellektuell gestützt wurde die soziale Konstruktion des Originals in den 1930er Jahren durch Walter Benjamin und seinem Aura-Begriff, den er gegen die Anthroposophie Rudolf Steiners in seinen Marihuana-Versuchen abgegrenzt hatte. Global gültig wurde diese Konstruktion des Originals mit der Charta von Venedig im Jahr 1964, in der das Original über alle anderen Formen des Historischen, dazu gehört auch die Rekonstruktion, erhaben erhoben wurde. Die kultische Verehrung des Originals tabuisiert es. Ist es verloren, darf es nicht rekonstruiert werden. So lautet der originalistische Imperativ der Charta von Venedig. Rekonstruktionen haben deswegen keinen Wert, sind Disneyland – so die Doxa der Denkmalschützer alter Prägung. Geht es in der Erosion mit der Zeit kaputt, muss es geschützt und in seinem Zustand des Verfalls konserviert werden. Die politische und faktische Handhabe sieht natürlich völlig anders aus. In Berlin wurde das Original des Palasts der Republik einfach mit den Argumenten zerstört, es sei mit Baugiften belastet und nicht sanierbar. – Das ist übrigens kein Argument, denn Baugifte müssen immer teuer und aufwendig entsorgt werden, gleichgültig, ob ein Bauwerk abgerissen oder saniert wird, die Kosten sind immer dieselben. – Natürlich war der eigentliche Grund eine ganz andere toxische Belastung, die aber wieder im Bereich der sozialen Konstruktion zu finden war, im Immateriellen und nicht in der Materie. Das Original wurde abgerissen, dafür aber entschied sich ein anderes Parlament der Berliner Republik für den Neubau eines Altbaus, das heutige Humboldt-Forum. So wirr kann es gehen, so wenig können letztlich Originale wert sein. Es kommt scheinbar nur auf ihre soziale Konstruktion an, nicht auf die Qualität ihres Baubestands.
Wie ungelenk und wenig ansprechend der Begriff des Originals ist, zeigt eine kurze beispielshafte Analyse des Eiffelturms. Gefragt werden muss: Was ist das Original? Was macht das Original zum Original? Ist der Eiffelturm ein Original, Zeugnis einer auf fossilen Energieträgern ruhenden Industriekultur des 19. Jahrhunderts?
Im ausgehenden 20. Jahrhundert war der Turm komplett erneuert worden, der ephemer nur für die Dauer der Weltausstellung 1889 gedacht gewesen war. Jede eiserne Strebe, jede Schraube, jede Mutter, jede Niete wurde ausgewechselt, um weitere 100 Jahre Standfestigkeit zu gewährleisten. Seitdem lässt sich die Frage stellen: Wie original ist der Eiffelturm? Gibt es nun zwei originale Eiffeltürme, wenn das alte Baumaterial des 19. Jahrhunderts wieder zu einem Turm zusammengesetzt und neben dem Turm aufgebaut würde? Der eine hat die originale Form, die originale Ästhetik, den originalen Bauplatz, aber nicht mehr die originale Materie, dafür die soziale Konstruktion und die formal-historische Kontinuität. Der andere verfügte über die originale Materie, die originale Form, die originale Ästhetik, aber er wäre transloziert, besäße nicht mehr den originalen Standort und seine Einheit blieb nicht kontinuierlich erhalten. Die soziale Konstruktion wäre: „Dies ist der Turm, der aus den erodierten Bauteilen des Eiffelturms zusammengesetzt wurde. Betreten oder auch nur in seine Nähe kommen ist nicht zu empfehlen.“ Welcher Turm würde also das Prädikat original verdienen? Es ließe sich eine pragmatische Antwort geben: Den Touristen macht der Verlust der Materie des Eiffelturms nichts aus, die soziale Konstruktion und seine lokale Kontinuität, seine Ästhetik, seine Geschichtlichkeit sichern ihm die Zuschreibung des Originals zu. Sie stellen sich trotz der mangelnden originalen Materie in die langen Warteschlangen, um das klischeehafte Paris-Symbol Treppenstufe um Treppenstufe zu ersteigen oder sich körperlich wenig inkommodiert, wenn auch gedrängt, in Fahrstühlen nach oben befördern zu lassen. Für sie ist der Turm am richtigen Ort, das ist offenbar wichtig: am Champ de Mars en face à face mit dem Trocadéro. Der Ort, sein geografisch-städtebaulicher Kontext, seine Relationen, seine soziale Konstruktion, eine Kontinuität sind also mitunter entscheidend, nicht aber seine originale Materie. Ganz besonders ist die Indikation der Kontinuität, seine Form, seine Ästhetik und Funktion, für die korrekte Zuschreibung des Originalen entscheidend. Hingegen würde der Turm aus den Originalmaterialien irritieren und wohl sogar auf Ablehnung stoßen, nicht nur wegen seiner erosionsbedingten Einsturzgefahr. Er trüge etwas Sekundäres an sich: Es wäre der Turm, der aus den ausgemusterten Baustoffen des Eiffelturms errichtet wurde, aber er ist nicht der Eiffelturm selbst, weil er diskontinuierlich ist, also keine Kontinuität formaler Einheit besitzt. Aber der Eiffelturm 1 existiert nicht mehr in seiner Unberührtheit: Das Paradoxon des Originals zeigt sich darin: Die Materie spielt eine untergeordnete Rolle. Vor der originalen Materie stehen die Werte, die das Argument der Berührtheit durch Sanierung in den Vordergrund stellt, zusammen mit dem Argument der Zeitautonomie und der Kontinuität. Dazu kommt noch ein weiteres Element, der richtige Ort, also das Argument des Topos. Er ist ein Garant für das Original.
Somit ist das Problem des Originals das Problem der Materie im Verhältnis zu seiner sozialen Konstruktion.
Dies sei nur ein Beispiel dafür, dass Materie, die mit dem Wort und Begriff des Originals im 20. Jahrhundert untrennbar verwoben wurde, keine große Rolle für das Original spielt. Der heutige Denkmalschutz baut letztlich bis heute auf diesem verstörenden Begriff von 1900 auf, der naturalistischen Ursprungs ist und damit einer konstruktivistischen, aber heute vorherrschenden Weltsicht fernsteht. Deswegen plädiere ich dafür, zukünftig auf das Original zu verzichten und das Original durch das Authentische zu ersetzen. Das Authentische kann ebenso naturalistisch interpretiert werden. Das hieße, ein Objekt sei von sich aus authentisch und verfüge von sich aus über die Eigenschaft der Authentizität. Walter Benjamin siedelt mit seiner Aura sehr nah an dieser Auffassung. Ich jedoch bevorzuge eine konstruktivistische Interpretation: Die Eigenschaft der Authentizität wird Objekten aufgrund einiger Indikationen zugeschrieben, die ich historische Werte nenne. Durch das analytische Erkennen historischer Werte wird die Authentizitäts-Zuschreibung überhaupt erst performatorisch, also in einem Sprechakt, möglich. Das Wort ‚das Authentische‘ ist nicht so vorbelastet wie das Wort Original. Es kann, konsturktivistisch verstanden, nicht direkt analysiert werden, das Authentische bezieht sich immer auf historische Werte. Historische Werte sind die Grundlage für Authentizität und im Nachklang schützt diese in einem Sprechakt zugeschriebene Authentizität die historischen Werte.
Alois Riegl hatte, obgleich er die wichtige Stellung des Originals ähnlich wie der Heidelberger Kunsthistoriker Georg Dehio hervorhob, eine radikale Einstellung zum Original, es durfte sich wandeln. Georg Dehio vertrat im berühmt gewordenen Denkmalstreit über den Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses, das Original in seinem Zustand einzufrieren und zu schützen. Das ist ihm auch weitgehend gelungen. Riegl hingegen betonte, dass das Historische an Originalen gerade in ihrem Wandel besteht. Wandel gehört zur Zeit und deswegen ist die materielle Veränderung ein Qualitätssigel für originale Architektur. Riegls Paradebeispiel war nicht das Heidelberger Schloss, aber der Österreich-Ungarische Diokletianpalast in Split, der rekonstruiert werden sollte. Riegl setzte sich gegen diese Rekonstruktionsabsichten durch, deswegen steht heute in Split in römischen Mauern Stadtpalais und andere Bauwerke. In seinen Worten unterscheidet er einen Alterswert, in dem der Verfall eine Rolle spielt, vom historischen Wert, der auf den Ursprung eines Bauwerks verweist. Zum Alterswert gelang es ihm wahrlich Radikales zu formulieren.
„Vom Standpunkte des Alterswertes muß eben nicht für ewige Erhaltung der Denkmale einstigen Werdens durch menschliche Tätigkeit gesorgt sein, sondern für ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen, und eine solche bleibt auch dann garantiert, wenn an Stelle der heute existierenden Denkmale künftighin andere getreten sein werden.“
Das ist eine Ansicht, die eine zirkuläre Denkfigur in sich trägt, die für die heutige Klimakrise wie geeignet scheint. Nur der Neubaugedanke, den würde ich ihm gerne ausreden. Die Gläubigkeit an das unveräußerliche materielle Original, wird hier in einer besonderen Form aufgelöst: im Wandel. Genau das bedarf es meines Erachtens im Umgang mit Kulturerbe. Es soll bestehen bleiben, wo es nicht geht, darf es neu weiterentwickelt werden, aber all der Wandel, seine Geschichtlichkeit, fördert seine Authentizität, macht den Bestand, macht die Stadt, in der dieser Bestand steht zu einem einzigartigen Gebilde.
Und noch einen weiteren Hinweis gab Riegl zum historischen Wert eines Gebäudes, der gegen den Alterswert läuft:
„Die Symptome der Auflösung, die dem Alterswerte Hauptsache sind, müssen vom Standpunkte des historischen Wertes mit allen Mitteln beseitigt werden. Nur darf dies nicht am Denkmal selbst geschehen, sondern an einer Kopie oder bloß in Gedanken und Worten.“
Das heißt, der historische Wert ist ein sozial konstruierter und ruht auf Wissensformationen einer Gesellschaft, er haftet nicht dem Original in seiner Materie an, sondern der Immateriellen Seite des Objekts.
An diesem Punkt des historischen Werts von Alois Riegl, wollte ich mit der Authentischen Stadt weiterdenken. Es sollte ein Kategoriensystem historischer Werte entstehen, die letztlich die soziale Konstruktion, also das Immaterielle eines Bestandsobjekts, analysieren und befördern lassen.
Kategoriensystem der historischen Werte

Doch nun zu dem Kategoriensystem der Historischen Werte mit denen Kulturerbe analysiert und taxiert sowie dessen Authentizität auch entwickelt werden kann. Ich gehe von sechs historischen Werten aus, die an Kulturerbe festgestellt werden können. Das ist zuerst der epistemische historische Wert, der Wissensformationen und die gesamte soziale Konstruktion eines Objekts umfasst. Er muss in Archiven und Bibliotheken gesucht werden, sowie in empirischen Studien erfasst werden. Sodann der lokale historische Wert, der durch den Ort, den genius loci, charakterisiert wird. Jeder Ort ist einzigartig auf einer Kugel und damit ein Ankerpunkt für mannigfaltige epistemische historische Werte. Weiterhin gibt es einen materiellen historischen Wert, der sich auf historische Materie bezieht und für den Begriff des Originals bedeutend war. Kulturerbe bekommt historischen Wert durch Geschichtlichkeit, also durch das In-der-Zeit-Sein, darauf weist die Aura von Walter Benjamin in seinem Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks. Dieser zeitlich-geschichtliche Aspekt ist nicht reproduzierbar, eine Reproduktion beispielsweise, sieht zwar aus, als wäre sie seit dem 18. Jahrhundert in der Zeit gewesen, sie ist es aber erst seit ihrer Fertigstellung im 21. Jahrhundert, wie das Humboldt-Forum in Berlin. Trotzdem halten Reproduktionen einen historischen Wert, den ästhetischen, der durchaus historisch ist. Das spielt in den rekonstruierten Stadtansichten von Danzig und Warschau eine gewichtige Rolle. Zuletzt gibt es den idealistischen historischen Wert. Das sind historische Bauprinzipien, wie Rundbögen oder Kolonnade, Gauben, Dachformen, Gebäudetypen etc. etc., die sich als historische Anklänge immer wieder in Architektur finden und sich durch Zeitunabhängigkeit ausweisen.
Am bereits bekannten Beispiel des Eiffelturms lässt sich das gut beschreiben:
In seiner jetzigen materiellen Konfiguration verfügt er über den epistemischen historischen Wert: Er verweist auf eine vielgliedrige soziale Konstruktion und individuelle Wissensformationen, die auf eigenen Erfahrungen beruhen. Zudem verfügt er über einen lokalen historischen Wert. Er steht dort, wo der ursprüngliche Turm stand, sogar auf dessen, wenn auch sanierten Fundamenten. Es gibt also eine lokale historische Kontinuität, die in der Authentizitätsempfindung mitunter entscheidend ist. Der heutige Eiffelturm verfügt aber nicht mehr über einen materiellen historischen Wert. Der ist durch die Sanierungsmaßnahmen im ausgehenden 20. Jahrhundert verschwunden. Doch im Sinne Alois Riegls Alterswert verfügt der heutige Turm über eine eigene Geschichtlichkeit, den historischen Wert des In-der-Zeit-seins, zu dem der ehemalige ursprüngliche Turm gehört, aber auch die Weiterverwertung seiner Materialien. Nur ein kurzer Kommentar: Hier vermenge ich den Alterswert von Riegl absichtlich mit historischen Werten und etikettiere ihn um. Das ist kein Fehler, das ist Absicht. Gerade die Sanierung, gerade sein Wandel verleiht ihm einen temporalen historischen Wert. Ebenso verfügt er über einen ästhetischen historischen Wert. Der heutige Turm entspricht in unserer Wahrnehmung dem ursprünglichen Turm. Auch einen idealistischen historischen Wert hat der Turm. Das betrifft aber nur seine Fachwerkbauweise, er liegt in einem europäischen Baudiskurs, zudem das fränkische Fachwerk, wie das englische oder das nordfranzösische gehört.
Den einzigen historischen Wert, den der heutige Eiffelturm entbehrt, ist der materielle. Ansonsten verfügt er über alle anderen historischen Werte, die ihm Authentizität zuschreiben lassen. – Aber, und das ist der Unterschied, er ist im Sinne der Charta von Venedig, kein Original, denn ihm geht die originale Materialität ab.
Dies sei nun nur ein Beispiel, wie Bauwerke analysiert und authentifiziert werden können. Der Eiffelturm hat nicht viel mit Klimaschutz zu tun. Jedoch können diese Kategorien der historischen Werte für Stadtplanungsprozesse auf jeglichen Bestand angewendet werden. Es lassen sich damit die historischen Werte und damit die Empfindung der Authentizität einer Stadt auch bewusst steigern. Das ermöglicht einerseits das Bewahren und Weiterentwickeln von Bestand und damit aktiven Klimaschutz und andererseits erzeugt dies einen atmosphärisch-ästhetischen Resilienz-Aspekt, denn Authentizität bewirkt Wohlbefinden und Wohlbefinden erzeugt emotionale und psychische Resilienz.
Je mehr historische Werte in einem Stadtentwicklungskonzept am Bestand herausgearbeitet werden können, desto authentischer wird die Umsetzung des Konzepts im urbanen Raum wirken, desto mehr Nähe entsteht zur fernen Vergangenheit. Das Authentische löst Gefühle aus. Sie will das Leitbild der authentischen Stadt produzieren. Wie gut das gelingen kann, können wir an uns selbst beobachten, wenn wir vor einem prominenten Kulturerbe stehen, es betrachten oder nur davon reden oder es besuchen wollen. Kulturerbe oder auch nur die Lieblingsdinge der Kindheit, die wir plötzlich in einem Karton wiederfinden, sie alle wirken emotional auf uns, bewirken etwas in unseren Körpern. Der Zauber von Geschichten und Geschichte, den wir introspektiv kennen, soll hier als abschließendes Argument dienen. Das Leitbild der authentischen Stadt versteht körperliche Reaktionen als Bereicherung: Wohlbehagen ist ein weicher Faktor urbaner Resilienz, hervorgerufen von historischen Werten und der Zuschreibung des Authentischen an bauliches Kulturerbe. So plädiere ich für das Gute Leben in der Stadt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.