Die Macht der Sprache
Wie eine Zeit ist, gut oder schlecht, katastrophal oder paradiesisch, hängt nicht von der Zeit ab, sondern wie wir sie erzählen. Als neu kann diese Einsicht nicht bezeichnet werden. Hayden White hat sie vor 50 Jahren weit verbreitet mit Rückgriffen auf Charles Sanders Peirce und Northrop Frye. Nicht Fakten sind es, sondern die Narrative, die Geschichten innerhalb eines kulturellen Rahmens formen. Gegenwärtig erleben wir mit der Pandemie, mit den Herausforderungen des Klimawandels eine Zeitenwende. – Nein, so geht das natürlich nicht, wir erleben keine Zeitenwende, sondern eine Abweichung vom Gewohnten. Erst Reflexion und Bewertung der Fakten sowie deren Verknüpfung mit dem Narrativ der Zeitenwende machen aus der Differenzerfahrung die Zeitenwende. Wir wissen noch nicht, ob nach den Erfahrungen der Pandemie und mit denen des fortschreitenden Klimawandels gesellschaftliche und politische Änderungen eintreten. Aber das Narrativ von der Zeitenwende macht die Zeitenwende erst plausibel, obwohl es nur ein Narrativ ist, dessen rückwirkenden Einflüsse auf unser Handeln nicht zu unterschätzen sind. Wenn wir durch das Narrativ überzeugt sind, an einer Zeitengrenze zu leben, dann leben wir auch an einer frontier. Die Sprache macht’s, nicht die Fakten; sie unterstützen nur. Dann, wenn die Fakten schwer wiegen, ist die Erzählung evident, wahrhaftig. Diese Erkenntnis können wir im Zeitalter des Konstruktivismus, das unsere Sprache zum Zeitalter des Konstruktivismus gemacht hat, als gesetzt und unumstößlich verstehen. – Obwohl es doch „nur“ Sprache ist. Wir verstehen diese Macht der Sprache, haben ihre Wirkung längst inhaliert und intentionalisiert. Sprache ist die Wirklichkeit, in der wir leben.
Die neue Angst vor der Macht
Umso bemerkenswerter ist es, dass gegen diese Macht der Sprache vorgegangen wird, die gerade machtvoll die Wirklichkeit der Zukunft prägt. Kaum ein Thema bewegt die Gesellschaften so, wie die gendersensible Sprache, konkret symbolisch das Gendersternchen oder die inzwischen beinahe ausgestorbene Gendergap oder wie auch immer dieses Phänomen der Entvirilisierung der Sprache gefasst wird.
Das Symbol Genderstern steht auch für die Identität und die Identitätspolitik. Durch Sprache wird normiert, mit Sprache wird Wirklichkeit erschaffen. Auch darin greife ich auf längst zum Standard gewordene Gedanken zurück, die Peter Berger und Thomas Luckmann vor langer Zeit dachten. In der Tat: Wer an der Sprache dreht, gefährdet unser gewohntes Leben. Deswegen werden die Kämpfe so erbitterlich geführt. Wenn auch noch vorgeschrieben wird, wie Sprache sich wandeln soll, dann wird diese „Bevormundung“ noch problematischer. So tobt der Kampf. Derrida und sein Werk werden vom Thron gestoßen, Michel Foucault wird so beschädigt, dass es fraglich ist, wie sein Einfluss auf die Sozial- und Kulturwissenschaften zukünftig noch bestehen kann. Seit Jahren wird Judith Butler angegriffen. Alle drei sind genau dafür verantwortlich: für Identität, für gendersensible Sprache, sie und so viele andere, die wir zur Postmoderne rechnen, die von Jean-François Lyotard sprachlich gesetzt wurde. Die Multiperspektivität, die Differenz, die Diversität, ihre Väter und ihre Mütter, ihre Rezipient:innen werden in einer erstaunlich massiven Art angegangen, um eine gerade entstehende neue Wirklichkeit abzuwenden. Mit den Angriffen auf Foucault und Derrida, dem ersten wird Pädophilie unterstellt, dem zweiten Irrelevanz seiner Texte und die Unfähigkeit Grenzen (auch gegenüber verbotener Betäubungsmittel) zu ziehen, wird das Problem der sozialen Transformation der Ideen der Postmoderne, an der Wurzel angepackt. Michel Foucault wird vom Essayisten Guy Sorman, Derrida von Hans Ulrich Gumbrecht unterminiert. Judith Butlers Hebelpunkt für Kritiker:innen besteht in ihren Verharmlosungen von Hamas und Hisbollah. Kurzum: Pädophilie, Drogen und Antisemitismus sind die Geschütze, die aufgefahren werden, um die Postmoderne und ihre Ideen zu diskreditieren. Wie haltbar die Vorwürfe gegen Foucault sind, wird sich noch zeigen, ebenso wie sehr er beschädigt sein wird. Über Derridas Texte und deren Qualität kann selbstverständlich immer gestritten werden. Was sich dagegen hinter Gumbrechts Anspielung auf Derridas Nähe zu Drogen verstecken mag, sei dahingestellt. Butlers Bewertung von Hamas und Hisbollah gehören als Positionen durchaus in den Antisemitismus Diskurs. Wir sind jedenfalls in der Debatte an einem Punkt angekommen, an dem nicht um Inhalte, sondern nur noch um Deutungshoheit mit allen Mitteln gekämpft wird. Sprache steht gegen Sprache, um die Macht der Sprache zu stoppen, mit der sich ein Gesellschaftswandel vollzieht.
Texte und Ethik
Wieder tut sich ein moralisches Problem auf. Die Postmoderne hat ungemein viel unterschwellig, unbemerkt in unserem Denken verändert. Relativismus und Konstruktivismus sind durch sie weit verbreitet. Und das ist gut so. Die Zweifel an den scheinbaren Unumstößlichkeiten sind mehr als angebracht in offenen Gesellschaften, die sich vor enormen Herausforderungen befinden. Foucault, Derrida und in besonderer Weise Judith Butler, aber auch die vielen anderen Denkerinnen und Denker haben bereits unsere Wirklichkeiten verändert. Doch nun werden sie selbst als das Unumstößliche hinterfragt. Das dürfte eigentlich in ihrem Sinn sein. Aber werden sie nun gecancelt? Desintegriert? Ihr Denken ausgegrenzt? Es wird interessant werden zu beobachten, was der Identitäts-Diskurs mit der Postmoderne macht. Doch die ethische Frage ist: Wie verhält sich das postmoderne Denken zu den Vorwürfen gegen ihre Denker:innen? Ist die Postmoderne erledigt, weil sie ad absurdum geführt wird? Weil sie inkonsistent geworden ist? Oder ist nicht ihre divergente Widersprüchlichkeit eines ihrer Markenzeichen? Die nächsten Monate werden zeigen, wie sich der Diskurs entwickelt.
Es entsteht sicherlich eine Debatte, die als Tragödie für die Postmoderne erzählt werden kann. Vielleicht aber auch als Komödie, die in einem Fest nach der Zeitenwende enden wird. – Lasst uns unsere Zukunft erzählen!