Ein Wochenende im April.

Zurück nach Mittelbaden! An den Weinbergen Stuttgarts entlang, an der Grabkapelle auf dem Württemberg vorbei – Palladios Villa Rotonda grüßt erhaben erhebend – blicke ich zurück auf ein Wochenende, dessen Länge sich anfühlt wie eine Woche ohne Ende. So viele verschiedene Eindrücke, so viele Atmosphären, so viele Emotionen, so viele Differenzen, die nicht offensichtlicher hätten zu Tage treten können.

Samstag: Paolo Costa in der Galerie Süßkind, Augsburg

Wunderschön sommerlich herausgeputzt zeigte sich Augsburg am Vormittag des 13. April 2024. Kaum auf der Bahnhofsstraße angekommen, durfte ich wahrnehmen, was Legalisierung bedeutet. Ich weiß nicht, ob Augsburg die bayerische Kifferhauptstadt geworden ist. Wenigstens riecht es dort so. Ich mag die Legalisierung nicht. Nicht nur weil das Zeug schon immer unangenehm in meiner Nase war, sondern weil Alkohol bagatellisiert wird. Jede und jeder darf vor Kindern trinken bis zur Besinnungslosigkeit, Kiffen vor Kinderaugen hingegen geht nicht. Das müsste doch Jacke wie Hose sein. Wie heißt es in Frankreich? „C’est kif kif bourricot.“

Durch die schmale heimelige Dominikanergasse führte mein Weg. Galerie Süßkind hieß mein Ziel. Dort lernte ich Alexandra Pfründer kennen, die Tochter des italienischen Starfotografen Paolo Costa, die nun das Archivio Paolo Costa leitet. Die Galerie Süßkind allein spielt für mich, für mein Leben, eine gewichtige Rolle, weswegen ich dorthin immer wieder gerne zurückkehre, um mich an den Erinnerungen zu berauschen. Dieses Mal sollte ich eine Vernissagerede am Samstagabend zur Ausstellung von Pfründers Vater halten. Wohl hatte ich mir dazu ein Konzept zurechtgelegt. Aber wie so oft kam es dann ganz anders. Ausgestellt wurden eben nicht nur einige Fotografien von Filmstars, sondern, unsichtbar und doch so präsent nah, persönliche Beziehungen, die Vater Tochter Beziehung von Costa und Pfründer, die Freundschaft aus Schulzeiten der Galeristin Sybille Terpoorten und Alexandra Pfründers. Mein Konzept war dahin, denn dieses Unsichtbare jenseits der Fotografien wollte sichtbar werden. Paolo Costa wollte durch seine Tochter wiederbelebt werden, der hier in der Galerie der befreundeten Galeristin einen gediegenen Rahmen bekam über 40 Jahre nach seinem Tod mit einer Einzelausstellung geehrt zu werden.

Paolo Costa

Der Abend wurde zu einem vollen Erfolg. Zwischen Uschi Obermaier, Sophia Loren, Federico Fellini, Marcello Mastroianni, Claudia Cardinale, Luchino Visconti, Gina Lollobrigida, Britt Ekland standen die Gäste und feierten mit ihnen.

Samstag: Grüne Tara

Vor der Galerie auf der Dominikanergasse zogen in Scharen die Canabisschwaden vorbei. Wenn sie es erlaubten, weil sie sich für kurze Zeit verflüchtigten, konnte ich diese warme Frühlingsluft riechen, voller Pollen, satt und feist, wie keine Luft zu anderer Jahreszeit zu inhalieren ist.

In einem solchen Moment der Stille und des Frühlingsgenusses sprach mich eine Grüne Tara an. „Schöner Vortrag!“, sagte sie. Im zweiten Satz brachte sie sofort ihr Alter und ihren Namen unter. Im dritten Satz erzählte sie mir, sie sei an so wenig in diesem Leben noch interessiert. Früher habe sie alles neugierig gemacht, doch heute sei das anders, sie braucht das alles nicht mehr. Diese Aussage stand ein wenig im Gegensatz zu ihrem Alter und ihrem Aussehen. Letztlich lag es nur an mir, wie ich dies verstehen wollte. Wollte ich das alles westlich lesen, hätte ich um ihr Leben fürchten müssen, wollte ich es östlich lesen, so hätte ich wohl meine Hut ziehen müssen: So weit war sie schon gekommen. Genau das sagte ich: „Das hört sich sehr reif an!“ Erleuchtet und fern der irdischen Fanfaren, dem Irdischen enthoben. Beeindruckt asiatisch und irritiert europäisch blieb ich vor ihr stehen und suchte doch nur einen Weg zu finden, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Früher an allem interessiert, heute an fast nichts mehr. Ein Abschluss? Resignation oder doch nur asiatische Erleuchtung? Letzteres sicherlich und aus meiner Perspektive nicht auf den ersten Blick verständlich und doch eines: Reif und erleuchtet. Ein von mir bewunderter Künstler zog mich weg und sprach von seinen Projekten, die mich sofort in ihren Bann zogen. Mir wurde deutlich bewusst, dass ich fern der Interesselosigkeit und noch ferner der Erleuchtung war. Buddha muss warten.

Sonntag: Chemtrails in der Eiszeit, Pandemie und das liebe CO2

Wie gewöhnlich war die Fahrt von Augsburg nach München im Regionalzug nicht sonderlich komfortabel. Reisende mit Deutschlandticket gesellten sich zu denen, die pendelten. Wie immer fragte ich mich, warum ich nicht einen ICE genommen hatte. Die Antwort erfolgte prompt. Denn in dem gut gefüllte Zug fand ich einen freien Platz bei einem Herrn, der mit einigem Gepäck reiste und deswegen einen Viererplatz mit Koffern zugestellt hatte, zwischen denen ich mich niederlassen wollte. Zuerst bereitete ich mich noch vor auf den Abend im Theater im Fraunhofer, dann aber blickte ich in die agrarisch strukturierte Landschaft zwischen Augsburg und München. Ein herrlich-heißer sonniger Tag. Im Süden die Alpenkette, traumhaft. Plötzlich kippte einer der Koffer auf mich. Ein Ereignis, das ein Gespräch auslöste, das mich nachhaltig beschäftigte. Der Herr, bei dem ich einen Sitzplatz fand, meinte nach einem kurzen belanglosen Geplänkel über die Vorzüge der Deutschen Bundesbahn, ich solle doch an den Himmel schauen. Da käme schon wieder einer. Gemeint war ein Düsenjet. Nun – nichts ungewöhnliches, ein Kondensstreifen, darunter liegend Cirren und Cirrostratus nebulosus. Die verschiedenen Cirren schienen den Mann in Wallung zu bringen. Die seien alle künstlich. „Ach, diese Chemtrailgeschichte kommt jetzt“, meinte ich zu ihm. Und in der Tat sie kam. Das sei Geo-Engineering, ein Riesengeschäft, die Flugzeuge, man sähe es ja, versprühen die Chemikalien. Alles sei Menschengemacht. In der Tat der Kondensstreife gehört zu den Cirren, zu den Eiswolken und sie sind eindeutig anthropogen. Die Cirrus-Wolken und die Cirrostratus nebulosus hingegen nicht. Es sind Schleierwolken natürlichen Ursprungs. Aber das ist natürlich mein Ansicht, seines war es nicht.

Dann ging es weiter vom Geo-Engineering zur Pandemie. „Wo sind die Millionen Toten, von denen gesprochen wurden?“, fragte er mich. Aber sind denn 20 Millionen Tote, von denen die WHO ausgeht, nicht Millionen? Wenn ich den Herren richtig verstanden habe, gehen viele Fälle davon auf die Impfung zurück. Er forderte Nürnberger Prozesse für die Verantwortlichen hier in Deutschland. Die Politikerinnen und Politiker des Rechtsstaats Deutschland, welche die Pandemie bewältigen mussten, werden dadurch als Regime eines Unrechtsstaats gesehen, die gerichtet – im wahrsten Sinne des Wortes werden sollen, sobald sich eine andere Regierung (!) bildet. Die Gefährlichkeit des Gedankenguts dieses Herren schien mir unerträglich und veranlasste mich, eine Laudatio auf den Rechtsstaat zu halten, der mir lieb und teuer sei sowie mich stolz und mich glücklich mache. Die volle Bandbreite der Verschwörungserzählungen hatte mich erwischt. Aus nächster Nähe, habe ich das noch nicht mitbekommen. Von den Chemtrails, der Pandemie ging es zum nächsten Verschwörungsszenario: Klimawandel. Wir leben in einer Eiszeit, so vertrat es der Herr. Und deswegen sei das alles gar nicht so schlimm. Es sei doch schön, wenn es wärmer wird und CO2 sei ein gutes Gas, ich solle mich umsehen, nichts wäre Grün ohne CO2! Doch erst einmal zurück zur Eiszeit: In der Tat es gibt eine solche Definition von Eiszeitaltern. Wir befinden uns seit 34 Millionen Jahren im Känozoischen Eiszeitalter, weil seitdem der Südpol vergletschert ist. Ist mindestens ein Pol vergletschert, sprechen wir von einem Eiszeitalter. Die Temperatur liegt verglichen mit der Mittleren Temperatur während der gesamten Existenz der Erde darunter. Eine Abfolge von Kälte- und Wärmephasen ist in der Tat zu verbuchen. Also: Alles gar nicht schlimm? Vor 8-7 Millionen Jahren tauchten die erste Hominini-Gattungen auf. Homo sapiens entwickelte sich vor ca. 200.000 Jahren, unsere Zivilisationen sind überschaubar noch jünger. Unser Leben ist spezialisiert auf das Känozoische Eiszeitalter. Der Erde in ihrer Gesamtexistenz sind diese jungen Gattungen völlig egal und so egal wie alle anderen die schon ausgestorben sind. Sie wandelt sich, wer sich mitwandeln kann, wandelt sich mit, wer nicht, stirbt aus. Gerade wandeln wir die Erde. Gerade schmelzen wir anthropogen bedingt die Polkappen ab. Dann leben unsere Nachfahren laut angewendeter Definition in einem anthropogen provozierten Warmzeitalter, für das homo sapiens gar nicht spezialisiert ist. Wenn er dann noch lebt.

Die Verschwörer verkürzen, die Verschwörer spitzen zu und sie implizieren einen politischen Systemwechsel. – Ich trat benommen aus der Baustelle des Münchner Hauptbahnhofs und wurde von einem wirklich heißen Sommertag am 14. April 2024 empfangen.

Sonntag: Dr. Triebels musikalische Gruppentherapie, Theater im Fraunhofer, München

Theater im Fraunhofer

München, die Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin, in der ich studiert habe, die weit entfernt liegt von Rheinebene und Nordschwarzwald, die meine gegenwärtige Heimat sind, kam mir so befremdlich vor. Sie war groß, sie war so bevölkert, so belebt, so geruchsintensiv und laut. Am liebsten wäre ich aus der Fraunhoferstraße im Glockenbachveriertel geflüchtet und sofort in einen Zug Richtung Westen gestiegen, egal, ob nach Augsburg oder gerne auch gleich an die französische Grenze. München ist längst nicht mehr die Stadt meiner Studienzeit, wohl fühlte ich mich bei all den Besuchen seit den Tagen in der Maxvorstadt an der LMU nicht wirklich.

Doch dann kam dieser Abend in der musikalischen Gruppentherapie. Dr. Claas Triebel, wir kennen uns nun schon sehr lange, hatte mich eingeladen. Es entpuppte sich dieses München als eine Stadt, die sich nicht völlig gewandelt hatte. Das Theater im Fraunhofer zeigte sich als Hort meines Münchens. Das liegt nicht nur an Peppi Bachmaier und seinem urigen Gastraum, dem engen Theater, den alten Dingen, die gefühlt schon in meiner Studentenzeit so waren, wie sie jetzt sind. Es lag auch an diesem verrückten völlig entspannt offenen ekstatischen Projekt von Dr. Triebel, der hier Text und Musikbeiträge unter einem bestimmten Motto auf die Bühnen des Fraunhofers bringt. Dieses Mal ging es um Stadt vs. Land. Die Dialektik des Urbanen und Ruralen wurde hier synthetisiert, musikalisch, literarisch und ein ganz klein wenig philosophisch. Ein volles Haus, unfassbar tolle Musikerinnen und Musiker zauberten hier ein Münchengefühl in mir, das ich nicht mehr zu erlangen glaubte. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Das war gegenwärtig. Ein Fest im Jetzt. Rainer Cox, Bernie & OM, Sebastian Amler und die famose Margreth Außerlechner – grandios, ein Fest! Es war in urban-rural-münchnerisches Inferno.

Viel zu früh ging es zurück nach Augsburg mit dem letzten Zug. Nach einer kurzen Nacht begann das Sommersemester 2024 an der Universität Augsburg.

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