Augmented Textuality’
Die Bibliothek der Zukunft? Über die Mobilen Apps der Bayerischen Staatsbibliothek
Von Stefan Lindl
Universität Augsburg
Anlässlich des Workshops ‚Musealisierung der Wirklichkeit?‘ am 30. Juli 2014 in der Bayerischen Staatsbibliothek, München.
Von einem unverrückbaren konservativen Standpunkt auf einige Apps der Bayerischen Staatsbibliothek geblickt, erscheint es erstaunlich und irritierend, was diese Bibliothek mitunter produziert. Die App über ‚Ludwig II.’, die über ‚Bayern in historischen Karten’ oder die über ‚Jean Paul’ verlassen die Kernbereiche, denen sich gewöhnlich eine Bibliothek verschreibt und widmet oder besser: sich normativ zu verschreiben oder zu widmen hat. Darin liegt die Irritation des Gewohnten während des Gebrauchs dieser Apps. ‚Eigentlich’ sammelt eine Bibliothek unter bestimmten Gesichtspunkten Bücher, ordnet sie, bewahrt sie auf, verwaltet sie, konserviert sie und stellt sie Benutzerinnen und Benutzern zur Verfügung. Sie verwaltet Informationen, die von Hand ‚geschrieben’ oder gedruckt oder digital vorliegen. Eine Bibliothek ist eine Lager- und Bereitstellungsstätte von Informationen, eine Institution, die erfunden wurde, um einen festen Bezugspunkt zu schaffen, an dem sich bloße bewusstseinsunabhängige Informationen in bewusstseinsabhängiges Wissen verwandeln kann. Es geht also nicht nur um Bücher, sondern immer auch um die Benutzer, denen Informationen ‚serviert’ werden.
Sammeln, verwalten, bewahren, bereitstellen – an diesen Worten ließen sich die gewohnten Aufgaben der Bibliotheken semantisch anbinden. Einige Apps der SBS aber lassen sich unter keine oder zumindest nicht gleichzeitig unter mehrere dieser Kategorien verorten. Sie gehen aus den Mauern der Bibliothek hinaus, weisen in die Wirklichkeit, verbinden die Informationen mit geographisch bestimmbaren Orten und Wegen. Informationen werden in den Apps nicht einfach nur gesammelt, geordnet, bewahrt, bereitgestellt, sie werden inhaltlich aufbereitet, neu gegliedert, rekomponiert, mit eigenen kreativen Anteilen angereichert, um die Informationen in einer Art der ‚eigenen’ Publikation zu vermitteln. Das Wort Vermittlung steht plötzlich im Vordergrund sowie die Verknüpfung von Informationen und dinghafter Wirklichkeit. Um zu erfassen, wie weit diese Apps über das Gewohnte hinausgehen, hilft ein Blick auf die Relation von Informationen und Wirklichkeit, die in den Apps praktiziert wird: Nicht die Bibliotheken, sondern gewöhnlich die Museen beschäftigen sich vornehmlich damit Dinge auszustellen. Seien diese Dinge Gebrauchsgegenstände, Kunstwerke oder Architekturen oder Reste von Architekturen. Bibliotheken bewahren Bücher, deren Funktion es ist und bleibt, gelesen zu werden. Bücher werden ihren funktionalen Kontext immer behalten, der da heißt: lesen. Museen dagegen bewahren Dinge auf, die überhaupt keine Funktion und keinen Kontext mehr haben. Dafür ist es die Aufgabe jeglicher musealer Konzepte, funktionslose Dinge zu kontextualisieren, sie mit Hilfe von Text und Bild an eine Rekonstruktion einer verlorene Zeit anzubinden. Das ist natürlich reduziert dargestellt, denn auch Gedenktafeln an noch genutzter, alter Architektur gehören zu musealen Konzepten. Architekturen, wie die Schlösser Ludwigs II., haben immer noch einen Gebrauchswert als Touristenattraktion. Das Augsburger Rathaus wird immer noch als Rathaus genutzt. Doch die zeitlichen Kontexte der Entstehung sind vergangen. Museale Konzepte versuchen durch Gedenktafeln in Städten eine historische Dimension einzuziehen: „In diesem Hause wurde … geboren.“ „Diese Kirche wurde von … im Jahr … erbaut.“ Das Prinzip der Gedenktafeln, das als ein Vorläufer des 19. Jahrhunderts der computergestützten ‚augmented reality’ verstanden werden kann, in diesem Fall der historisch erweiterten Realität, nutzt nun die Bayerische Staatsbibliothek mit ihren Apps auf zeitgemäße Art und Weise. Aus der Blickrichtung der Bibliothek handelt es sich aber nicht unbedingt um eine ‚augmented reality’, sondern um eine ‚augmented textuality’: Die aufbewahrten Texte und Informationen werde um die Realität erweitert – nicht umgekehrt. Die SBS übernimmt damit die Funktion der Museen oder der musealisierenden Konzepte, die Wirklichkeit um eine historische Dimension zu erweitern oder besser: mit vielen historischen Dimensionen anzureichern und zu durchdringen.
Die Chance, die die mobilen Geräte, die Smartphones und die Tablets, bieten, gab es noch nie zuvor in diesem Maße. Die langweilige Wirklichkeit, die nur für den Moment vegetativ existiert, nur ihr Dasein hat, wird plötzlich zu einer reichen Wirklichkeit, die mit ortsungebunden-nutzbaren Informationen verknüpft ist. Die mobilen Geräte sind die Schnittstelle zwischen langweiliger Wirklichkeit und vielfältigen Informationen der Datenbanken, die die Staatsbibliothek verwaltet. Die Apps schließen also durchaus an dem Benutzergedanken des Bereitstellens von Informationen an, das der Institution der Bibliothek obliegt, aber das Benutzen oder der Nutzen der Informationen ist nicht mehr an den geographischen Ort der Bibliothek gebunden. Informationen werden überall bereitgestellt, vor Ort – einem beliebig anderen als der Bibliothek. Damit verliert die Bibliothek ihre Bedeutung als Ort für die Benutzerinnen und Benutzer. Die Bedeutung des einzigen Ortes der Bibliothek wird geringer, die Bedeutung der mobilen Schnittstelle dafür größer. Die Grenzen verschwimmen zwischen Bibliothek und Museum, die Wirklichkeit wird dafür belebter, wenn die Informationen nur genutzt werden, die die Bibliothek bereitstellen kann. Wichtig erscheint vor allem diese Überwindung des geographischen Orts. Sie sprengt alle Rahmen der Bibliothek. Aber es ist nicht die Bibliothek, die diese Überwindung betreibt, es ist eine mobile Technik, die plötzlich den ständigen Zugriff überall dort ermöglicht, wo es ein Funknetz gibt. Die SBS nutzt diese Technik nur innerhalb ihres Auftrags, Informationen für Benutzerinnen und Benutzer bereit zu stellen.
Die Apps scheinen heute vielleicht noch als verspielt, als Auswüchse eines Versuchens, sind Essays im wahrsten Sinne des Wortes. Sie erscheinen vielleicht auch noch als Rahmenbruch der Bibliothek, letztlich ist es eine logische Konsequenz, die durch die Aufgabe der Bibliothek und die technischen Möglichkeiten als Dispositive vorliegen. Zukünftig wird diese ‚augmented textuality’, die in den Apps getestet wurde, wohl der Weg der Bibliothek sein. Es ist noch keine Form gefunden, die Bestand haben wird, aber es ist ein Weg beschritten, der die zukünftige Form der Informationsvermittlung mitgestalten wird. Die Bayerische Staatsbibliothek ist hier wohl auf einem Weg der Zukunft.
Fern von dem allgemeinen Kontext des Denkens befindet sich dieses Prinzip der ‚augmented textuality’ nicht. Seit dem 11. September 2001 wird von der ‚Rückkehr des Realen’ gesprochen. Die Rückkehr des Erkenntnisinteresses an der Realität, die nach dem linguistic turn der 1960er Jahre und den darauf folgenden Jahrzehnte der Postmoderne nicht möglich war. Gegenwärtig drängen Verteilungsfragen von Kapital oder Ressourcen in den Vordergrund des Erkenntnisinteresses. Der Text wird um die Wirklichkeit erweitert – ‚augmented textuality’ auch darin ist die Bayerische Staatsbibliothek mehr als zeitgemäß.