Über Wein, Jacques Derrida, Elvis Presley und die Demokratie
Vor über 12 Monaten jährte sich eine recht unangenehme Erfahrung. Ein Infekt mit einem multiresistenten Keim hatte mich im jungen Jahr 2019 schnell zu der Erkenntnis gebracht, wie existentiell wichtig es beizeiten doch sei, über ein funktionierendes Immunsystem zu verfügen, insbesondere wenn keine üblichen Medikamente wirken. Den ersten Jahrestag im Januar 2020 beging ich mit einem verhaltenen Rückblick, mit Reflexen auf lange Monate, in denen ich um Gesundheit gerungen hatte. Die Quarantäne, in die ich mich hatte begeben müssen, die vermummte Krankenschwester in der Klinik, die vorsichtigen, teils ängstlichen Ärzte, die mit bewundernswerter Selbstbeherrschung ihrem Fluchtinstinkt widerstrebten, das Gefühl des Aussatzes hatten Spuren hinterlassen, tiefe sogar. Dieses Alleingelassen-, sich-selbst-überlassen-Sein! Doch überwog vor allem die Dankbarkeit, dass alles letztlich doch einigermaßen glimpflich vorübergegangen war, auch wenn es über ein halbes Jahr der Regeneration bedurfte, bis ich mich wieder wohlfühlte. Über ein halbes Jahr hatte ich keinen Wein, keinen Alkohol mehr getrunken, obgleich der Kult um den Wein doch einst so wichtig für mich gewesen war: Ich hatte über Weine Artikel verfasst und im Feuilleton veröffentlich, Reiseberichte publiziert, eine Erzählung über eine Schweizer Weingegend stammt aus meiner Feder. Die Erzählung wurde sogar verfilmt. Zudem liebte ich es zu kochen, zu genießen und großartige Weine auszuwählen. Ein ungewöhnliches, am besten ein schräges Gewächs war immer willkommen, meine Neugier darauf war selten ausgeblieben. Doch der Wein hatte seine Bedeutung verloren, war zur Gefahr geworden, die der Genesung keineswegs dienlich ist.
Die Urlaubszeit kam. Im September probierte ich dann doch wieder Wein in Südtirol, ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Frankreich. Auch in den Bergen des Piemont und am Meer der Cote d’Azur schenkte ich einem Glas Wein, blickte über den Sand ins Blau und nippte gedankenverloren an gekühltem Rosé. Auf der Heimfahrt probierten wir Schweizer Pinot Noir vom Alpenrhein. Nichts mehr war so wie früher. Ich trank, aber ich tat es nur, weil es einst Gewohnheit wie Wert gewesen war. Kleinste Mengen waren mir unangenehm, ich befand mich fern des freien unbeschwerten Genusses. Freude kam nicht auf, auch die so geliebte Ruhe blieb aus. Immer schwang Respekt vor seiner Wirkung mit. Purer Genuss, pure Freude, explosive Begeisterung über unwiderstehliche und unerwartete Aromen wollten sich nicht mehr einstellen.
All diese Reflexe fanden bereits vor einem anderen Prospekt statt: Corona. Das Virus bewirkte eine Krankheit, die sich im irgendwie noch fernen Wuhan ausbreitete, jedoch bereits ihre Geister als Avantgarde nach Europa entsandt hatte, die Angst vor dem Ungewissen schürten vor einer Lungenkrankheit, die nicht zu behandeln war, die Quarantäne und ein Einfrieren des sozialen und ökonomischen Lebens erforderte. Ein déjà-vu. Medikamente oder eine Impfung gab es nicht.
Während sich in den Wochen nach dem Jahrestag langsam auch in der Bundesrepublik Deutschland der Lockdown abzeichnete, sich einige meiner Bekannten mit Weinflaschen eindeckten, um sich dem guten Leben im heimischen Kokon behaglich hinzugeben, war mir immer der Infekt, die Quarantänesituation präsent, das Bangen, ob mein Körper siegen würde. In Italien starben inzwischen die Menschen. Wein schien mir vor allem in Erinnerung und aus Gewohnheit verlockend gut als Zeichen, Zeichen des kultivierten Genießens, schöner entspannter Stunden, Unbeschwertheit. Andererseits stellte ich mir nicht mehr die Fragen: Kein Wein zum Festessen? Es überwog die Erkenntnis: Wein ist gut, hätte er nur keinen Alkohol. Rein kulturtechnisch und kulturhistorisch gibt es für Alkohol im Wein auch gar keine Gründe mehr. Meine Corona-Strategie lag in Askese, suchte in ihr das gute Leben, das gute Leben in mir, in einer Haltung, meiner Haltung, nicht mit gutem Wein. Ein wenig Kant, ein wenig Kopernikus. So entschied ich: Ab heute kein Alkohol mehr. Als ich den Satz sprach, tat ich dies in einem ausgelassenen Zustand freudigen Aufbruchs. Er verlieh mir die zweifelhafte Imagination der Kontrolle über das Corona-Virus, ermöglichte mir das Gefühl nicht ausgeliefert, nicht schutzlos zu sein, sondern ihm aktiv begegnen zu können. Ausgestattet mit Resilienz gegen das Virus brach ich mit meinen Gewohnheiten, die meinen Lebensstil lange Zeit geprägt hatten, von denen ich ausgehen mussten, sie seien hoch kultiviert. Ich musste davon ausgehen. Ich ging nicht selbst davon aus. Diese Formulierung ist nicht zufällig.
Darin stecken die Chance und die Gefahr, die Corona uns anbietet: Hinterfrage die scheinbar festen Gefüge, die doch nichts anderes sind als Wertekanon, der aber nichts weniger ist als gesellschaftlich konstruiert. Er ist gemacht und damit gegeben, aber nicht unhinterfragbar und vor allem ist er neu konstruierbar! Wer soziale Konstruktionen dekonstruiert, agiert erst einmal nicht blasphemisch gegen die oberste Gottheit der Gesellschaft. Foucault hätte sie Diskurs genannt. Die Dekonstruktion scheint etwas Gutes zu sein oder etwa nicht? Ich hinterfragte den Wein. Das, vermeinte ich, sei gut für mich. Andere, nur wenig später, hinterfragten die Demokratie. Das beängstigte mich. Der Grund findet sich beiderseits im Corona-Virus. Sein mächtiges Rütteln und Schütteln an unserem Leben steckte uns alle an, alle begannen alles zu hinterfragen: Die guten Absichten der Regierung, die Globalisierung, den Neoliberalismus, den Kapitalismus, die Demokratie als Wert, die Gesundheitsfürsorge, den Gemeinsinn und ich den Weinsinn. Monate des Shakerwesens ging auf das Virus zurück. Es fungiert als Rüttelplatte, die uns alle zum Schütteln brachte. Seitdem hinterfragen wir mehr und mehr, unsere Kleidung, unsere Arbeit, unsere Mobilität, unser Essen, unsere Grundgesetze. Shake, baby, shake now! Das ist der neue pandemische Derridaismus, der sich mit Elvis Presley paart.
Gut ist das nicht in jeglicher Dimension, denn wir wissen, was mit Shakern passierte: Ihre Gemeinschaften starben aus. Sie hatten alles hinterfragt und weggeschüttelt, was der Gesellschaft, die sie verlassen hatten, heilig gewesen war, die sozial konstruierte Stellung von Mann und Frau haben sie aufgelöst, vermittelt durch den Zölibat. Wer denkt, Baerbock und Habeck seien fortschrittlich, schaue doch bitte zu den Shakern. War alles schon mal radikaler und krasser gedacht. Wenn auch nicht der Zölibat die Grünen zum Verzicht treibt, so doch der anthropogen verursachte Klimawandel oder ehemals die Atomkraft. Anders shaken die Grünen Shaker und doch ähnlich. So umgarnen sich im strukturellen Gleichklang die Utopien. Der Zölibat machte Männer und Frauen im Shakeruniversum gleich, deswegen konnten sie gemeinsam leben, auch geregelte, getaktete Köperlichkeit gab es im Shaken unter sozialer Kontrolle des Gesellschaftstanzes. Nachwuchs beruhte nicht auf einem sexuellen Akt, sondern auf Haltung und Akt der Nächstenliebe, der Aufnahme von Waisenkindern. Eine Art der asexuellen Vermehrung einer höchst calvinistisch geprägten arbeitsliebenden Gruppe von Menschen. Theologisch shakten sie auch alles dahin. Christus war ihnen nicht der Gottessohn, sondern der Sohn Gottes qua göttlichem Sprechakt bei der Taufe. Einfach alles rüttelten sie hinweg, was irgendwie als sicher und fest einige Jahrhunderte gegolten hatte. Doch was blieb von den zölibatären Shakern, von ihrem spektakulären Shaken und Rocken der gesellschaftlichen Konstruktionen, die heute teils als utopisch vorbildlich gelten? Kein Nachwuchs! Eintrag auf der FFH-Liste! Also: Überlege, was Du schüttelst und an was Du rüttelst. Ich tat es am Wein. So viele andere an der Demokratie in den verschiedensten Nuancen und Blickrichtungen, kombiniert mit Hass auf Expert*innen, Politiker*innen und Journalist*innen, bis hin zum Sturm auf das Reichstagsgebäude und damit an den grundlegendsten Symbolen der Demokratie, an denen aber auch von der Politik gerüttelt wurde. Wie an den Einschränkungen der Grundrechte, weil es keine demokratischeren Resilienzstrategien gegen das Virus gab. Es ist ein Jahr des massenhaften Schüttelns und Rüttelns an allen Werten. – Für jede dieser Positionen des Schüttelns gilt: Überlege genau, an was Du rüttelst, sonst ergeht es Dir wie den Shakern! Schüttle Dich nicht aus dem guten Leben.
Ich rüttelte also, um das Leben zu genießen und riss damit eine feste soziale Konstruktion ein, die überall geteilt wird und stabilisiert wird. In allen Medien. Wenn ich alte Filme aus den 1960er oder 1970er Jahre sehe, dann gewinne ich immer den Eindruck, alle Welt habe damals Zigaretten geraucht und in den kurzen Pausen vor dem Griff zur nächsten Zigarette und zum Feuerzeug habe sie Whisky in sich hineingeschüttet. Das war wohl der Ausdruck des guten Lebens. Heute ist der Wein die Zigarette der Nachkriegszeit: Zufluchtsort in jedem Film, Ausdruck für das kultivierte gute Leben, Wohlbefinden, ab und an mit Kater, als belustigend dargestellte Wirkung einer sorglosen Nacht. Es hat sich alles in dem einen Corona-Jahr, in dem ich keinen Wein mehr genießen wollte, in meiner Wahrnehmung verändert. Die gesellschaftliche Konstruktion wurde mir fremd. Und die Fremdheit öffnete die Augen, die Ausmaße dieser Konstruktion überhaupt erst wahrzunehmen. Ein Jahr ist das nun her. Ein Jahr ohne Wein, einfach weggeshaked. Es ist doch erstaunlich, was dieses Virus mit uns macht, wenn wir im Lockdown auf uns selbst zurückgeworfen werden und die Chance bekommen, dem übermächtigen Wertesystem und den drückenden Ordnungen der Gesellschaft kritisch gegenüber zu treten und zu fragen, was soll denn das eigentlich? Die Quarantäne scheint die Möglichkeiten der Katharsis zu bieten, auch der Metanoia, weil sie andere Lebenskonzepte anbietet. Darin liegen zugleich Zerstörung von Gutem und Hinwendung zum Besseren. Die Krisensituation treibt vielfältige Schüttelblüten, sie lassen sich kaum zähmen und zeugen von dem Misstrauen gegenüber den Konstrukten unserer konstruierten Werte und Wahrheiten, die in dem letzten Jahr erst scharf konturiert sichtbar wurden, darin liegt die Krise in der Krise. Ob dem Tanz Einhalt zu gebieten ist? Werden die alten Werte angepasst an neu entstandene Handlungsformen und Rituale? Werden sie die Krise nicht überstehen?
Wachsamkeit ist wohl im Hinblick auf die wünschenswerte Normalität durch Massenimpfungen überaus geboten. Das zweischneidige Aufbegehren gegen soziale Werteordnungen wird gerade von allen gesellschaftlichen Bestandteilen verfolgt. Was auch immer geschieht eines ist sicher, gerade heißt es auch weiterhin:
Well shake, baby shake! | Virus said, shake, baby, shake!
Natürlich leben wir in einer Wertegemeinschaft und sind im Wesentlichen angepasst. Aber wir sind auch Individualisten und agieren als solche auf einer anderen, einer zweiten Ebene. Wir bleiben Unikate, und wir wollen dies auch. Und alsw solche leben wir unsere „privaten“ Bedürfnisse aus, meinetwegen auch solche mit asketischem Anspruch.
Ich teile die Auffassung, dass das Corona-Virus unsere Gesellschaft durchschüttelt; manchmal staune ich über Sachverhalte, die anders nie ans Tageslicht gelangt wären, nur: Mit meiner Art zu leben hat das nichts zu tun.
Ich verstehe, wenn man durch eine schwierige Phase mit gesundheitlichen Defiziten das Vergnügen des Weingenusses verliert. Genau dies habe ich selbst erlebt. Aber heute geniesse ich wieder alkoholische Getränke – auf bekömmliche Art. Covid-19 als Trigger für Verzicht?
Niemals. Ich benutze andere Motivatoren, um meine eigenen Regeln einzuhalten.
LikeLike