Exposé:
Digitaldemokratisch?!
Der Weg in die Applikationsgesellschaft
Stefan Lindl
Wir leben in einem Zeitalter der Aporie tradierter Machtstrukturen. Die digitale Revolution erschuf die Dispositive für eine bislang ungekannte Machterosion eines 200 Jahre alten Wegs von den konstitutionellen Monarchien über die Diktaturen in die Demokratie. Gegenwärtig erstarken Individuen durch die Möglichkeiten der Applikationen, ohne Ausbildung, ohne Kompetenzen und ohne staatlich überwachte Qualifikationen Öffentlichkeit zu erlangen. Neben den Applikationen, die alles ermöglichen, bieten Social Media bislang ungekannte Diffusionsmöglichkeiten, die nicht institutionell gefiltert werden. Hierarchien verflachen und die Qualifikationsgesellschaften werden transformiert in Applikationsgesellschaften, weil jeder alles kann, wenn er nur die richtige Software aus dem Netz lädt. Dadurch werden alte Ordnungen nicht allein auf den Kopf gestellt, sondern zerrüttet.
Ein erstaunlicher Effekt dieser nicht auf Institutionen und Qualifikationen beruhenden Diffusions- und Publikationsmöglichkeiten ist der Verlust staatlicher Wissenshoheit. Die aristotelische Unterscheidung von Wissen und Meinen lässt nicht mehr treffen. Episteme-Wissen und Doxa-Meinen sind ästhetisch nicht zu unterscheiden: Schriftlichkeit, Publikation, Diffusion spielen dabei die entscheidende Rolle. Wenn der Staat seine Hoheit über das Wissen nicht mehr behaupten kann, verliert er an Autorität und an Macht.
Diese Auswirkungen der digitalen Erosion des Werts staatlicher Qualifikationsabsicherung gehen einher mit Vertrauensverlust gegenüber den Eliten. Stimmen in den Social Media mutieren zu Individual-Egomanpolitikern, die nach direkter-digitaler Demokratie rufen. Es vollzieht sich ohne Zweifel die Geburt einer Digitaldemokratie. In welche Richtung sie sich entwickelt, obliegt uns als Aufgabe der nahen Zukunft. Darüber hinaus ist eines klar: Die Komplexität der Welt bleibt, selbst im scheinbar Einfältigen, Einheitlichen, Egomantischen, Abgeschlossenen und in allen paradiesischen Exklusionshoffnungen.
2 Gedanken zu “Die digitaldemokratische Applikationsgesellschaft”