Rezo Luther: Die Reformation der christlich-demokratischen Welt

Wenn wir bislang eine Medienrevolution verstehen lernen wollten, mussten wir einige Jahrhunderte zurückblicken. Genaugenommen fünf Jahrhunderte. Da sehen wir Luther, der nicht besonders innovativ war, aber dafür sehr effektiv und effizient die Zerstörung eines alten Systems betrieben hatte. Das war grandios, jedoch keine besonders genuine Gedankenleistung. Im Gegensatz zu seinen Vordenkern John Wyclif und Jan Hus hatte sich im Hintergrund der Handlungen Martin Luthers eine Medienrevolution vollzogen. Sie wird dafür verantwortlich gemacht, dass Luther Erfolg hatte, Wyclif im 14. Jahrhundert mit sehr ähnlich revolutionären Ideen gekuscht hatte und danach Hus im 15. Jahrhundert auf dem Konstanzer Scheiterhaufen landete und in den Flammen starb. Die neuen Medien haben Luther vor dem Ketzertod gerettet und gleichzeitig sehr erfolgreich die Welt verändert. Viele von Luthers Ansichten waren dabei alles andere als moralisch korrekt, aber auf seinen Antisemitismus soll hier gar nicht eingegangen werden. Es sind die Neuen Medien, die interessieren: Der Druck und die vielen neuen Druckprodukte machten ihn so erfolgreich, dass er nicht nur eine theologische Reform der alten starren Welt bewirkte und eine neue Konfession begründete, sondern in seiner Langzeitwirkung zu einem europäischen revolutionären Denken führte, das die alte Welt mit seiner  Feudalordnung zerstörte. 

Heute, im Zeitalter der neuen Neuen Medien der Digitalisierung, passiert ähnliches. Das alte System hat größte Probleme mit Einzelpersonen, die eine Informationsdiffusionweite haben, wie es sich die Parlamentarische Demokratie nur erträumen könnte. Das Problem, das die Digitalisierung mit sich bringt, nämlich dass jeder mit minimalster Ausrüstung zu einer enormen Reichweite gelangen kann, die bislang einem Medienimperium nur mit hohem finanziellen Einsatz möglich war, destabilisiert das etablierte System. „Emporkömmlinge“ werden sichtbar, die nicht den systemischen Weg der Legitimation mit ihrem Kooptations- und Ausbildungsprinzipien durchschritten haben. Sie sind Dilettanten! So könnte das System sie abtun und diskreditieren. Nur leider sind das Dilettanten, die sehr weitreichend sind. – Sie nutzen einfach nur die Medien, die jeder nutzen kann und könnte. Das Phänomen Rezo offenbart, was wir schon von Trump hätten lernen können: Meinungen, Emotionen vermittelt mit der richtigen Performanz lässt das politische System der feinen und althergebrachten Kooptation alt aussehen. Rezo und Luther brauchen keine Kooptation, um Stimmung zu machen. Aus ihrem Ausserhalb, ihrem Aussenseitertum bezüglich des Systems kann das strukturelle Versagen des Systems problemlos begründet werden. Es hat keine Antwort auf die Macht der Dilettanten – der Liebhaber. Es kann nicht mit seinem Leistungsprinzip, mit seiner Autoritätsgläubigkeit und starken Hierarchie auf mediale Quälgeister reagieren, die nicht durch Kooptation, sondern durch die Diffusionskraft neuer Medien groß geworden sind. Kooptation gibt Sicherheit, nur diejenigen, die auf Linie sind, kommen auch hoch. Philipp Amthor ist ein Klassiker des Kooptationsprinzips. Rezo gefährdet hingegen die Verlässlichkeit der politischen Gesellschaftsstruktur, weil er Macht hat, ohne legitimiert worden zu sein. Darauf gibt es bislang keine Antwort. Die Antwort liegt wohl in neuen Praktiken in einer neuen Form der Demokratie, einer neuen digitaldemokratischen Gesellschaft. Wir müssen lernen, dass ein Video das über 10 Millionen Klicks hat, auch nur ist, was Politiker und alle anderen Menschen vertreten;: Meinungen. Das Problem ist nicht die mangelnde Qualität der Meinungen, sondern die Quantität der Diffusionsmacht. Sie muss relativiert werden und sie wird sich nach Rezo relativieren. Wir sind auf dem Weg in eine parteilose Digitale Meinungswelt. Politik wird direkter werden müssen. Wie das einzelne Individuum von Luther einen direkten Zugang zu Gott bekommen hat, bekommen wir durch das Digitale den direkten Zugang zur Macht. Möglicherweise zeichnet sich das Ende der repräsentativen Demokratie ab. Die Parteien werde ersetzt durch Praktiken des Digitalen. Rezo ist der Vorgeschmack darauf und zeigt die Notwendigkeit auf diese Praktiken fair und zum Wohle aller zu entwickeln. Einem neuen Umgang mit den Klimawandel wird das nicht schaden, sondern vielleicht hilfreich sein. Wie wäre es mit einem digitalen Parlament? Eine Plattform auf der Rezo und Amthor batteln können? Wie wäre dies in einer parlamentarischen Form: 5 min. Redezeit und dann sagt der Filter: Schluss. Die Vielfalt des Diskurses könnte darin gut zum tragen kommen. Fragt sich nur, wie Entscheidungen generiert werden. Könnten Experten – nicht mehr die Politiker*innen alten Formats – den Diskurs moderieren? Könnte daraus eine neue Demokratie erwachsen – die digitaldemokratische?

Was kommt also nun? – Wer wird die Rolle der Jesuiten übernehmen? Wer wird die Gegenreformation gegen Rezo anführen? – Oder hat nun das Prinzip der Kooptation ihr rührendes Ende gefunden? Fragen, die noch viel spannender sind als die Europawahl, denn die gewohnte Ordnung wird das Digitale immer schneller auflösen. Unaufhaltsam webt die Digitalisierung.

Lesen Sie dazu auch: Schrift und Doxa in den Social Media. Annäherungen an ein Quellenkorpus, in: Mark Häberlein, Stefan Paulus, Gregor Weber (Hg.): Geschichte(n) des Wissens. Festschrift für Wolfgang E. J. Weber zum 65. Geburtstag, Augsburg 2015, S. 85-98.

Ein Gedanke zu “Rezo Luther: Die Reformation der christlich-demokratischen Welt

  1. Daraus folgt: Wer an Gott und seinen Sohn Jesus Christus glaubt, der ist bereits vor Gott gerecht. Gott schenkt dem Menschen einfach die Rechtfertigung. Damit hat Luther die Antwort gefunden auf die ihn seit Jahren bedrangende Frage: „Wie kann ich vor Gottes Gericht bestehen?“

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