
Stefan Lindl, am 14. Juni 2011, nachmittags*
„Wer bin ich?“, diese Frage mir im Hier und Jetzt zu stellen, bringt mich an die Grenzen meines Verstands. Das ist nicht nur einfach daher gesagt. Es ist wahr! Wie präzisierte ich, wer ich bin? Ich könnte mich funktional erklären: Ich bin ein Mann, ich arbeite als Geisteswissenschaftler und Hochschullehrer, ich bin katholisch, ich bin Bayer, ich spreche hochdeutsch, ich bin gerne in Städten (in meinem Fall Augsburg, München, Wien und Paris). Das bin ich, das ist meine Gegenwart, die aus der Vergangenheit kommt, die mir die gefräßige Zukunft schwerlich rauben wird. Aber diese Antworten betreffen meine persona, sie sind meine Maske, die aus den Papierschnipseln simpler, austauschbarer Äußerlichkeiten und einem Löffel Kleister gestaltet ist. Es gibt wahrscheinlich beträchtlich viele Menschen, die ähnliches von sich behaupten können, die eine fast identische Maske tragen wie ich. „Wer bin ich?“ ist die Frage, der ich nur persönlich auf den Leim gehe.
Keine Antwort gibt es dagegen darauf, wer ich nun bin. „Wer sind Sie?“, fragen Sie mich? – Ich weiß es nicht! – Wer ich bin, kann ich schon gar nicht anderen, geschweige mir verraten. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich werde es nie wissen! Um trotzdem einen sinnlosen Versuch zu wagen, an das Geheimnis heranzukommen, wer ich bin, müsste ich das Hinkebein des Verstands loswerden, es einfach amputieren. Aber wie amputiert man etwas, das nicht wirklich materiell existiert, sondern ein Denk-Vorgang ist? Mein Hinkebein des Verstands ermöglicht mir immer nur Wissen aus der Zukunft des Jetzt über das Jetzt. Das heißt, ich weiß nur zukünftig etwas. Ich kann nur zurückblicken, um das Hier und Jetzt zu verstehen, das ich erlebe und in dem ich lebe. Das bedeutet nichts anderes, als: Ich kann nur wissen, was ich erlebte, wie ich lebte und das lediglich als Interpretation. Es gibt keine Gleichzeitigkeit des Seins und des Verstehens dieses Seins. Das Sein kommt immer vor dem Denken, vor dem Texten, vor dem Zurückblicken. Wer ich bin, muss erst gewesen sein, damit ich definieren kann, wer ich bin. Wer ich aber bin, bedeutet somit nicht mehr, wer ich im Hier und Jetzt bin, sondern: Wer ich war.
Fortan kann ich nur noch fragen: „Wer war ich?“ Wenn es aber keine Einheit von Sein und Verstehen des Seins gibt, dann sind die Fragen „Wer sind Sie?“, „Wer bin ich?“, „Wer bist Du?“ tragische Fragen. Sie fragen verstandesmäßig nach dem Sein im Hier und Jetzt, aber sie bekommen keine Antworten aus dem Hier und Jetzt. Das ist wahrlich – tragisch.
Deswegen fragen Sie mich nicht, wer ich bin. Fragen Sie mich doch einfach „Wer waren Sie?“ und ich kann Ihnen eine lange, ausführliche, detail- und nuancenreiche Geschichte erzählen…
Nach dieser – meiner – Erzählung generieren Sie eine Vorstellung davon, wer ich bin. In Ihrem Denken bekomme ich einen Platz in Ihrem Hier und Jetzt, das sich aus Ihren Erinnerungen reproduzieren, re-präsent machen lässt, sobald Sie an mich denken. Wer ich bin, wird dann immer wieder Gegenwart in Ihnen. Aber dieses Abbild in Ihrem Geist mit all seiner Gegenwärtigkeit ist meine Vergangenheit. Fragen Sie mich, wer ich war! Die Antwort ist mein Sein in Erinnerung. Getrost können Sie jedoch auf die Frage „Wer ist Stefan Lindl?“ antworten, was Sie über mich wissen. Ihr Bericht ließe sich mit den Worten schließen: Das ist Stefan Lindl. – Für Sie bin ich das, doch für mich war ich’s gewesen.
*Als mir Louis Lau 2011 die Frage gestellt hatte „Wer bist Du?“, floss dieser Text auf die Festplatte und geriet in Vergessenheit. Am 5. Februar 2017 entdeckte ich ihn durch Zufall wieder.
Etwas sein kann mensch nur in einer Beziehung zu etwas anderem. An sich ist Mensch undefiniert, das eingrenzen kommt durch die Gesellschaft, den Beobachter, den oder die anderen (und es geht auch mit ihnen). Ich bin der ich bin, eine andere Antwort kann es kaum geben. Die Rekursion auf ‚Vergangenes‘ macht nur Sinn, wenn diesen speziellen Kontext jemand teilt.
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Ich bin, der ich bin. – Aber diese Konstitution des „Bins“ findet im Rahmen einer Narration statt und jede Narration, die selbstverständlich diskursiv und somit mit anderen verläuft, ist eine postmodo-Konstruktion. Auf das wollte ich hinaus: Ich werde gewesen sein. Insofern würde ich nicht bezüglich der Interpretation des Texts für eine Rekursion auf Vergangenes plädieren, sondern einfach für einen Akt des Bewusst-Seins im Sinne von Bewusst-Werden, der zwischen Vergangenem und Zukunft hängt und die Gegenwart nicht kennt.
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Ob es mich gibt, wenn das niemand beobachtet und niemand mitkriegt?
In der Gegenwart können wir nichts werden, was wir nicht bereits sind.
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