1742 bereiste der Genfer Pierre Martel das Tal von Chamonix. Von dieser Reise blieb der Text: „Voyage aux glacières du Faucigny“. Martel verfasste ihn als Brief an William Windham, der 1741 dieselbe Reise unternommen hatte. Der Genfer beschrieb, wie er die Gletscher und deren Umgebung untersuchte und feststellte, Gletscher wachsen in bestimmten Epochen an, in anderen schmelzen sie ab. Es sei angebracht, schrieb er, aufgrund der Überreste (vestiges) der Gletscher an den Talhängen 80 Fuß oberhalb des aktuellen Orts davon auszugehen, die Gletscher seien wesentlich reichhaltiger gewesen. „Les glacières et la vallée de glace augmentent et ne sont pas toujours dans le même état. Les glaces augmentent ou diminuent suivant le temps. Il y a apparence qu’elles ont été beaucoup plus abondantes. Il y a lieu de croire qu’elles ont du avoir plus de 80 pieds au dessus du lieu où elles sont actuellement, par les vestiges qui y sont restés.[i]“
Dreißig Jahre nach Martel besuchte Gottlieb Sigmund Gruner zwar nicht das Tal von Chamonix und die glacières du Faucigny, dafür aber die helvetischen Gletscher. Auch seine Reise brachte einen Text hervor: Reisen durch die merkwürdigsten Gegenden Helvetiens, London–Bern 1778. Sein Werk ist wesentlich umfangreicher als das von Martel. Es stellt eine Bestandsaufnahme bemerkenswerter Ort der Schweiz dar. Der Text führt als „merkwürdige Orte“Gletscher auf. Auch in Gruners Text wird historischer Wandel der Gletschergrößen festgestellt. So sei der zur Reise Gruners gegenwärtige Zustand des Rhonegletschers 1778 kleiner als jene Ausdehnung, die in den Kupferstichen von Johann Jakob Scheuchzer festzustellen sei, deren Vorlagen der Naturforscher während seiner Reise ca. 1710 als Zeichnungen anfertigen ließ und in seinem „Ouresiphoites Helveticus, sive itinera per Helvetiae alpinas regiones“ als Kupferstiche hat veröffentlichen lassen.[ii]
Einen Kupferdruck, den Gruner in seinem Text erwähnte, stellt den Rhonegletscher dar. Er scheint aus zwei Teilen zu bestehen. Eine sehr zerklüftete Gletscherzunge, die aus den Bergen herabfallend brüchig, mit kleinen herauskragenden sowie chaotisch anmutenden Eisbruchteilen wie ein Eisgebirge wirkt. Gipfel um Gipfel dängen sich dicht an dicht. Der Zeichner, auf dessen Vorlage der Kupferdruck zurückgeht, stand frontal zum Gletscher. Rechts im Bild wird der Gletscher durch einen Berg eingeschränkt, der in der Legende als Mont Furca bezeichnet wird. Die kleinen Eisgipfel des Gletschers enden in einer haubenartigen Viertelkugel, wohl eine Art Schutthügel aus Eis in den die Gletscherzunge mit ihren zerklüfteten Eisgipfel am Talgrund übergeht. Jedoch wird nicht gezeigt, wie diese Bestandteile des Gletschers zusammengehören. Ein Bachlauf tritt aus dieser Viertelkugel aus. Er vereinigt sich mit einem weiteren Bachlauf, der etwas höher aus der Gletscherzunge rechts im Bild austritt. Beide Bäche vereinigen sich zur Rhone. Dieser Befund des Kupferstichs wird von einem Gemälde von William Pars von 1770/71 bestätigt. Pars wählte nicht den frontalen Blick von Norden nach Süden, sondern von West nach Ost zum Furka hin, der den Hintergrund seines Gemäldes bildet. Seinen Standpunkt wählte er direkt vor der haubenartigen Viertelkugel, die allerdings weniger mächtig wirkt als bei Scheuchzer. In dieser Ansicht wird deutlich, um was es sich dabei handelt. In der Fachsprache heißt diese Art des Gletschers, der eine Kugel oder einen Fächer ausbildet, Vorlandgletscher. Die zerklüftete Gletscherzunge, die zusammen mit der Viertelkugel den Vorlandgletscher bildet, vollzieht einen diagonalen Bildaufbau. Pars Gemälde entstand annähernd zeitgleich zur Reise Gruners und wirkt sehr real-mimetisch. Ein direkter sowie naiver Abgleich dieser Ansicht mit dem Kupferstich Scheuchzers scheint einen eindeutigen Befund zu ergeben: der Rhonegletscher hat in der Zeit von 1710-1770 an Ausdehnung verloren. Aber eine gewissenhafte Aussage darüber lässt sich nicht treffen, weil der Kupferstich eine ähnliche Perspektive benötigte wie das Gemälde von Pars.
Einen umgekehrten Befund stellte Gruner am Finsteraargletscher fest. Während unbestimmbarer Zeit sei der Gletscher angewachsen. Auf mündliche Überlieferung berufend, schrieb er, es werde erzählt, ehemals sei der aktuelle Ort eisfrei gewesen und Blümlisalp genannt worden.[iii] Auch den Grindelwaldgletscher beschreibt Gruner als ein sich wandelndes Gebilde, das durch Schwund und Wachstum gekennzeichnet sei. Wiederum bezieht er sich explizit auf Scheuchzers Abbildung.[iv] Der Gletscher sei deswegen so interessant, weil er so oft in Kupfer gestochen worden sei. Deswegen könne an den verschiedensten Abbildungen des Gletschers Schwund und Wachstum abgeschätzt werden. „Keinen, von allen Gletschern, in der Welt ist so viel Ehre bewiese worden, als diesem. Er ist nicht nur von vielen beschrieben, sondern auch zu vielen malen in Kupfer vorgestellt worden. Diese Kupfer, die den Gletscher auf sehr verschiedene Weise vorstellen, dienen aber dazu, den verschiedenen und abwechselnden Anwachs und Abnahm desselben zu zeigen. Die einzelne Zeichnung, […] stellt denselben vor, wie er sich vor etwa 50. Jahren befunden hat. Damals war er größer als jemals, und hatte einen ungeheuren Eisstock an seinem Ende; obenher aber war er beynahe eben. […] Das größere Kupfer oder die Aussicht im Grindelwald, die diese beyde Gletscher in der Ferne zeigt, und etwa 20. Jahr vorher mag gemacht worden seyn, stellt denselben vor, wie er zu selbiger Zeit gewesen; und ungefehr anjezo ist. [v]“
Phänomene eines noch opaken Wandels waren durch Gruner und Martel in den Gletscherdiskurs im 18. Jahrhundert eingespeist worden. Martel gewann seine Erkenntnis aus materiellen Spuren oberhalb der damals gegenwärtigen Gletscherzunge, Gruner hingegen aus dem Vergleich mit Abbildungen und mündlichen Erzählung, denen er offensichtlich großes Vertrauen entgegenbrachte.
Bevor eine hinreichende Relation zwischen den Veränderungen der Gletscher und dem Klima diskursiv konstituiert werden konnte, musste der Diskurs durch den Treibhauseffekt angereichert werden. Jean Baptiste Fourier beschrieb ihn 1824 mit den Worten, „c’est ainsi que la temperature est augmentée par l’interposition de l’atmosphère, parce que la chaleur trouve moins d’obstacle pour pénétrer l’air, étant à l’état de lumière, qu’elle n’en trouve pour repasser dans l’air lorsqu’elle est convertie en chaleur obscure.“[vi] So erhöht sich die Temperatur durch das Dazwischentreten der Atmosphäre, weil die Wärme in Lichtform weniger Hindernis erfährt, um in die Luft einzudringen, als wenn sie in infrarote Strahlung verwandelt ist. Diese Position entspricht dem, was heute Treibhauseffekt genannt wird. Aber auch einen anderen Klimafaktor benannte Fourier: die Meere. „Tous les effets terrestres de la chaleur du soleil sont modifiés par l’interposition de l’atmosphère et par la présence des eaux. Les grands mouvements de ces fluides rendent la distribution plus uniforme.[vii]“ Alle Wärmephänomene auf der Erde bedingt durch die Sonne werden gestaltet durch das Dazwischentreten der Atmosphäre [zwischen Erde und Weltraum] und die Gegenwart der Gewässer. Die großen Bewegungen dieser Flüssigkeiten vereinheitlichen die Verteilung [der Wärme auf der Erde].
Der Einfluss auf klimatische Gegebenheiten, die Fourier in seinem Mémoire beschrieben hatte, wurde von John Tyndall Anfang der 1860er Jahre spezifiziert und mit Gletscherwachstum und -schwund in Bezug gesetzt. Tyndall verfasste Texte über Gletscher und deren historischen Wandel in der Schweiz, aber auch über Gletscherspuren, vor allem über gekritzte Felsen in Irland, England, Schottland und Wales. „Killarney, to which I have already referred, affords magnificient examples of ancient glacier action. No man with the slightest knowledge of the glacier operations of to-day could resist the conclusion, that the Black Valley of Killarney was once filled by a glacier fed by the snows form Magillicuddy’s Reeks.[viii]“ Im 19. Jahrhundert waren nur noch die Spuren dieser Gletscher einer fernen Kaltzeit übrig. Am Grimselgletscher hingegen war es ihm möglich, einen existierenden Gletscher zu betrachten, der aber ebenso Spuren einer historischen Ausdehnung zeigte wie das Black Valley von Killarney. Mit einem Verweis auf seine Gletscherforschungen beginnt ein Aufsatz von Tyndall aus dem Jahr 1861. Der Text verbindet den Wandel der Gletscherausdehnung mit dem Treibhauseffekt Fouriers: „The researches on glaciers which I have had the honour of submitting from time to time to the notice of the Royal Society, directed my attention in a special manner to the observations and speculations of De Saussure, Fourier, M. Puillet, and Mr. Hopkins, on the transmission of solar and terrestrial heat through the earth’s atmosphere.“[ix] Die Verknüpfung von Gletschern und Treibhauseffekt wird in Tyndalls Aufsatz durch die Spezifizierung der Treibhausgase gesteigert. Dort identifiziert er: „It is well known that our atmosphere is mainly composed of the two elements oxygen and nitrogen. Theses elementary atoms may be figured as small spheres scattered thickly in the space which immediately surrounds the earth. They constitute about 99 1/2 per cent. of the atmosphere. Mixed with theses atoms we have others of a totally different character; we have the molecules, or atomic groups, of carbonic acid, of ammonia, and of aqueous vapour.“[x] Anschließend wird der Treibhauseffekt beschrieben: „The waves of heat speed from our earth through our atmosphere towards space. Theses waves dash in their passage against the atoms of oxygen and nitrogen, and against the molecules of aqueous vapour.“[xi]
Svante Arrhenius Beitrag zu diesem Diskurs ist in mehrfacher Hinsicht entscheidend. Während Tyndall vor allem den Wasserdampf hervorhob, verschiebt Arrhenius’ Text in Anlehnung an Diskurspositionen von Ernst Lecher und Josef Maria Pernter sein Augenmerk auf die Kohlensäure, das Kohlendioxid als wichtigstes klimabestimmendes Gas. Ihm spricht er den Abkühlungs- wie auch den Treibhauseffekt zu. „Tyndall held the opinion that the water-vapour has the greatest influence, whilst other authors, for instance Lecher and Pernter, are inclined to think that the carbonic acid plays the more important part.“[xii] Diese Verschiebung zum Kohlendioxid ist entscheidend für die Richtung des Diskurses ab den 1930er Jahren, aber auch für die Interpretation des anthropogenen Anteils an de Treibhauseffekt. In Arrhenius Text findet sich folgende Regel: „Thus if the quantity of carbonic acid increases in geometric progression, the augmentation of the temperature will increase nearly in arithmetic progression.“[xiii] Diese Relation bezieht er direkt auf die geologischen Auswirkungen seiner These. Sie werden im Text Arrhenius’ mit den Aussagen zweier Kollegen aus Geographie und Geophysik erläutert: Arvid Gustaf Högbom und Luigi De Marchi. Beide prognostizierten am Ende des 19. Jahrhunderts, welche Zonen der Erde von dem Anstieg der globalen Temperaturen besonders betroffen sein werden. Auch zu den anthropogenen Gründen des Kohlendioxidausstoßes nimmt der Text von Arrhenius Bezug: „The world‘s present production of coal reaches in round numbers 500 millions of tons per annum, or 1 ton per km.2 of the earth’s surface. Transformed into carbonic acid, this quantity would correspond to about a thousandth part of the carbonic acid in the atmosphere. […] This quantity of carbonic acid, which is supplied to the atmosphere chiefly by modern industry, may be regarded as completely compensating the quantity of carbonic acid that is consumed in the formation of limestone (or other mineral carbonates) by the weathering of decomposition of silicates.“[xiv] Der Schluss aus dieser Rechnung und der von Arrhenius aufgestellten Relation von Kohlendioxid und Temperatur ist einfach: Steigt die durch Industrie bedingte Produktion von Kohlensäure / Kohlendioxid über deren natürliche Neutralisationsprozesse, so gelangt einerseits immer mehr Kohlensäure in die Ozeane, andererseits steigt die Temperatur der Erde. Dieser Anstieg der Temperatur ist anthropogen verursacht, er beruht auf der anthropogenen verursachten Freisetzung von CO2.
[i] Pierre Martel: Voyage aux glacières de Faucigny 1742, in: William Windham, Pierre Martel: Relations de leurs deux voyages aux glaciers de Chamonix, Genf 1879, S. 35-68, hier S. 48.
[ii] Johann Jakob Scheuchzer: Ouresiphoites Helveticus, sive itinera per Helvetiae alpinas regiones, Leyden 1723, 2. Band, S. 278.
[iii] Gottlieb Siegmund Gruner: Reisen durch die merkwürdigsten Gegenden Helvetiens, London–Bern 1778, 1. Teil, S. 249.
[iv] Johann Jakob Scheuchzer: Ouresiphoites Helveticus, sive itinera per Helvetiae alpinas regiones, Leyden 1723, 3. Band, S. 482.
[v] Gruner, 2. Teil, S. 13f.
[vi] Jean Baptiste Fourrier: Mémoire sur les températures du globe terrestre et des espaces planétaires, in: Mémoires de l’Académie royale des sciences de l’Institut de France, vol. 7 (1827), S. 569-604, hier S. 587.
[vii] Fourrier, S. 599.
[viii] John Tyndall: Mountaineering in 1861. A vacation Tour, London 1862, S. 71f.
[ix] John Tyndall: On the Absorption and Radiation of Heat by Gases and Vapours, and on the Physical Connexion of Radiation, Absorption, and Conduction. – The Bakerian Lecture, in: The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science, 4 (1861), S. 169-194, hier. S. 169.
[x] John Tyndall: On Radiation through the Earth’s Atmosphere, in: The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science, 4 (1863), S. 200-206, hier S. 201.
[xi] Tyndall: On Radiation, S. 202.
[xii] Svante Arrhenius: On the Influence of Carbonic Acid in the Air upon the Temperature of the Ground, in: Philosophical Magazine and Journal of Science Series 5, Volume 41, April 1896, S. 237-276, hier S. 239.
[xiii] Arrhenius, S. 267.
[xiv] Arrhenius, S. 270.