Verehrte Optimissima…
Ein Essay über den Drang der Natur zum Leben
Dieser Essay erschien im Katalog von Gabriele Lockstädt „Reflecting Nature“, S. 45f. Ihre Lechbilder, die sie in vielen Spaziergängen in der Auseinandersetzung mit dem Lech südlich von Landsberg am Lech produziert hatte. Selbstverständlich weiß ich, dass dieser Essay angreifbar ist auf einer Ebene, die ich hier mitunter betrachte, auf der Eben des Lechs und der Vernichtung seiner Biodiversität aufgrund der Vernichtung seiner Biotopdiversität durch den Wunsch nach Energiegewinnung und Landgewinn. Mir geht es aber um eine andere Ebene, die ich lediglich mit dem Lech erläutere. Für mich stand ein Reflex auf anthropogene Einflüsse im Vordergrund. In einer Zeit nach dem Anthropos wird eines nicht zerstört sein: der Drang nach Leben.
Verehrte Optimissima …
von
Stefan Lindl
Natur ist Optimissima. Wo kein Weg scheint, wird sie immer einen finden.
Ein Fluss bedeutet langes Leben. Ein See hingegen schwindet und siecht schnell dahin. Auch wenn wir diese Asymmetrie der zwei Leben von Fluss und See als Menschen nicht mitbekommen, am Maßstab des Erdzeitalters gemessen sind Flüsse die Schildkröten unter den Wasseransammlungen und die Seen eher die Kaulquappen. Dass die Seen äußerst schnell vergehen, liegt nicht zuletzt an den lebensfrohen sprudelnden Flüssen. Was ist überhaupt ein Fluss? – Eine Ansammlung von Wassertropfen, die von der Gravitationskraft und den verschiedenen Uferbedingungen ständig „im Fluss gehalten werden“ im Gegensatz zu den Wassertropfen im See, deren Tropfenverbände stabiler sind. Wenn sich ein Fluss wild durch und aus dem Gebirge stürzt, besteht er aber nicht allein aus einer quirlenden Menge Wassertropfen. Sie sind nur das hinreißende Transportmittel für das, was einen Fluss weiterhin ausmacht: Brocken, Steine, Steinchen, Sande, Sedimente, Tiere, Pflanzen, Samen. Ein Gebirgsfluss mahlt, spaltet und schleift scharfkantige Steine, die als Erosionsmaterial aus dem Gebirge vom Wasser mitgenommen werden. Mit dem Wasser gehen sie auf Reise. Ein Fluss schwemmt, schleppt, rollt, schiebt Gebirgsbrösel, um sich jung zu halten. Mit den Steinen verjüngt er immer wieder auf’s Neue sein Flussbett. Gäbe es nicht genug Steine im Fluss, es entstünde ein Canyon. Mit Steinen füllt er die Vertiefungen wieder auf, die er selbst seinem Flussbett zufügt. So einfach ist das Prinzip eines wilden Flusses und das Prinzip seines langen Lebens. Ein Fluss verbreitet Pflanzen- und Tierarten entlang seines Laufs und irgendwann ergießt er sich in einen See. Langsam füllt sich der See mit der Schlepplast des Flusses. Er selbst putzt und bereitet weiter sein Bett und hält sich jugendlich. Es dauert, bis der See verlandet ist. Kein Mensch wird diesen kaum spürbaren Vorgang überblicken können. Für Menschen sind beide, Fluss und See, Naturwesen, die nicht dem Altern unterliegen, zu wenig Wandel, zu unmerklich sichtbar verändernde Unterschiede, deswegen bleibt für sie der Fluss der Fluss, der See der See. Doch irgendwann, wenn der See gefüllt ist, währt der Fluss und der See verwandelt sich in sumpfiges Land.
So verliefe das Schicksal der Flüsse und der Seen auf lange Dauer, wenn nicht Ereignisse einträten, die alles veränderten: Ein Bergsturz im Gebirge, der den Fluss umleitet und den See austrocknet. Ein Klimawandel, der den Fluss zu Gletschereis erstarren oder die Hitze einer Wärmeperiode ihn versiegen lässt. Oder ganz banal: Der Mensch, der den Fluss, nur weil es ihm so sehr gefällt, nach seinen Regeln und nach seinem Willen bedingt, um ihn auszubeuten.
Der Lech
Lange Zeit war der Lech ein kräftiger wilder gebirgsbürtiger Fluss. Der Augsburger Augustusbrunnen zeigt ihn als bärtigen wilden nackten sehnigen Mann, ein Herrscher mit einem bekrönenden Kranz geflochten aus Tannenzweigen und -zapfen, dessen linker Arm sich auf sein Herrschaftszeichen, ein Ruder, stützt. Er scheint der wilde Augustus zu sein, der natürliche Herrscher über Land und Stadt. Der Kranz des Wilden wiederholt sich auf Augustus’ Kopf im Lorbeer, das Ruder im Schwert. Augustus steht beherrschend über dem wilden Lech. Doch nur auf dem Brunnen steht er über ihm, denn der Lech überdauerte auch den großen Augustus zumindest bis ins 20. Jahrhundert. Dann kam keine Eiszeit, kein Bergsturz, keine Trockenperiode. Es kam der Mensch und dressierte den wilden Gebirgler. Hinter Füssen bezwingt seit Beginn der 1950er Jahren ein Kraftwerk den wilden Lech und hindert ihn am ungestümen fließen. Kurz dahinter wird dem Lech gestattet, seine Wasser im Forggensee zu verteilen. Sein Reisegepäck, die Steine aus dem Gebirge, die er über Jahrhunderte Richtung Donau gerollt, gerissen und geschoben hatte, musste der Wilde in Tirol abgeben. Nicht in einem Schließfach oder in der Gepäckaufbewahrung, sondern in einem banalen Kies- und Quetschwerk. Nach Bayern darf er nichts mitnehmen. Zu gefährdet sind die wertvollen Turbinen der Laufwasserkraftwerke und ebenso wertvoll sind die Wasserspeicher, die künstlichen Seen, die sich nicht mit Kies aus den Bergen füllen sollten, sondern nur mit Wasser, dem Energieträger des Lands am Lech. Auf das Kraftwerk Horn folgt der Forggensee und das Kraftwerk bei Roßhaupten, dort wo ehemals der Heilige Mang mit seinem Stab einen Drachen besiegt haben soll, ist kein Fluss mehr, sondern ein idyllischer See, zumindest im Sommer. Auf den Forggensee folgt der Premer Lechsee, dann die Staustufe Lechbruck, darauf der Urspring Lechsee. So reiht sich See an See an See an See, schön gestaut, schön gebaut. Es sind jugendliche Seen die ein Wasser aus dem Gebirge speist. Vorbei ist die Zeit, als der Lech herrschte und aus dem Land, das er durchfloss, machte, was er wollte mit dem Material, das seine Hochwasser gerade mit sich führten. Der Lech war ein breites Kiesfeld gewesen, das sich manchmal zu Schluchten verjüngte oder sich manchmal schon im Mittelalter domestizieren lassen musste wie in Landsberg durch das Karolinenwehr. Aber sonst war er breit und weit eine Schotterwüstung, die allein seinem wilden Gestaltungsdrang unterlag. Einmal lief er hier, ein andermal riss er sich sein Hauptbett dort, lagerte ab, nahm mit, reicherte an. Aber nun, seit der Lech eine Seenkette geworden war, führt er kein Gepäck mehr mit sich. Während er sich zuvor noch selbst sein Bett immer wieder auffüllte, kann er an den wenigen freien Stellen, an denen er ein eingezwängter Fluss ist, sein Bett nicht mehr regenerieren. Er gräbt sich tiefer und tiefer. Der Fluss stirbt und ist vielleicht bereits gestorben – nicht seine Lech-Stauseen, sie leben als künstliche gebaute Welten.
Der Mensch hat diesen neuen Lech gestaltet. Die Regel vom Fluss mit dem langen Leben gilt nicht mehr für ihn. Die Seen sind nun Pflicht. Der Fluss ist Vergangenheit mit ihm eine ganze Reihe von Tieren, die sich spezialisiert hatten auf die Zonen seiner Wildnis, des Wandels der Flussläufe, der Verlagerungszonen, auf die Auenwälder und die von den Hochwassern zurückgelassenen Tümpeln, die immer wieder vom Wasser rasierten und abgeschwemmten Heiden. All das gibt es nicht mehr, weil der wilden Lech ein Hamster der Zivilisation geworden ist und für sie an ihren Rädern dreht. Der Strom stillt nun den Durst nach Elektrizität. Die Vielfalt der ehemals verbreiteten Arten vermindert sich, verschwindet, ist Vergangenheit. Ein Verlust, von Menschen bedingt. Aber Verlust stimmt nur traurig, wer Verlust und Wert des Verlorenen kennt. Der Natur ist der Verlust völlig gleichgültig, sie kennt ihre Werte nicht; Werte sind Menschwerk. Sie richtet sich immer neu ein, gibt Raum für immer neues Leben. Keinen Unterschied machen da die von Menschen gebauten Umwelten. Arten verschwinden in ihr, die besonders waren. Gleichzeitig bevölkert sie die neuen räumlichen Bedingungen mit Pflanzen und Tieren. So sind die größten Populationen von Schlingnattern nicht in der Abgeschiedenheit fern der Wander- und Radwege zu finden, sondern auf den betonierten Querverbauungen der Solstufen des Lechs, die in den letzten Flussstrecken des Lechs liegen, um ihm die Kraft zu nehmen. Sie sind die Symbole der Naturfeindlichkeit, des hemmungslosen Nutznießens der Natur durch den Menschen. Aber die Schlingnattern sehen das anders. Auf den Betonplatten und -mauern fühlen sich die hoch geschützten Nattern wohler als in den kaum frequentierten „Natur“ zwanzig Meter von dem Betonguss entfernt. Wer würde denken, dass eine Betonwüstung, das ästhetisch offensichtliche Gegenteil von Natur, ein wertvolles Habitat ist? Die Natur ist eigenwillig, sie macht, was sie will und über die Bauwerke der Menschen ist sie auch erhaben, sie bevölkert munter ohne sich zu bekümmern. Aus allen Menschenwerken holt sie das Beste für sich heraus. Sie ist stärker als das, was sie zurückdrängen soll. Sie vereinnahmt. Sie beklagt Verluste nicht, sondern macht immer das Machbare.
Aus diesem Blickwinkel ist die Natur der pure Optimismus. Sie macht gangbar. Gleichgültig in welcher Umgebung, sie macht möglich, was auch immer möglich sein mag. Immer wieder gebiert sie neues Leben, andere Arten, ohne Rücksicht, ob in der „unberührten“ Natur oder in der von Menschen geschaffenen Kultur. Sie macht, was geht.
Es ist dieser Optimismus der Natur, die Gewissheit, dass die Naturprinzipien überall und immer walten, die uns ein Spaziergang in der Natur als Gefühl meist unbewusst vermittelt. Sie schert sich nicht darum, was verloren gegangen ist oder geht, sie macht aus allen Umständen lediglich das Beste. Nichts scheint so kraftvoll zu sein, wie dieser Drang zum Leben. Das machte die Natur auch mit dem Lech. Seine ursprüngliche Wildheit war verloren, als der Mensch in großem Stil seine Kraft nutzte. Der Fluss wurde zum See. Diese Katastrophe für die Artenvielfalt, wandelte die Natur um, mit ihrer Notwendigkeit Leben zu generieren. So kritisch die Eingriffe am Lech gesehen werden können, so erhaben ist dort wahrzunehmen, das alles gebändigt werden kann, aber nicht das Leben. Das geht weiter und immer weiter und immer weiter. Kraftvollerer Optimismus lässt sich nirgendwo schöpfen als im Kontakt mit den Prozessen der Natur. – Verehrte Optimissima …