Die Authentische Stadt
Neue Urbanität zwischen Klimaschutz und Denkmalkult

United Nations „New urban Agenda“ – Die Neue Stadt
Für Klimawandel wie Klimaschutz besetzen die städtischen Räume Schlüsselpositionen des 21. Jahrhunderts. Weltweit wird sich die Stadtbevölkerung bis 2050 durch Zuzug nahezu verdoppeln. Aber nicht nur Land/Stadt-, sondern auch Klimamigration wird die bestehenden Stadträume verdichten. Neue Wohnräume müssen erschlossen, entsprechende urbane Konzepte entwickelt werden, um voraussehbare soziale Konflikte abzuwehren. Neue Urbanität sitzt nicht nur auf einer Basis CO2-neutraler Energiekonzepte auf, sie ordnet die Mobilität neu, nutzt Räume, die gegenwärtig dem Individualverkehr vorbehalten sind, aktiviert und initiiert Grünflächen, vermeidet Lärmemissionen, strebt die Abkehr von der Konsumgesellschaft an. Die Stadt der kurzen Wege wird Eigentum hinterfragen. Nutzen statt besitzen wird nicht nur die Mobilitätskonzepte kennzeichnen. – Im Oktober 2016 wurden diese Eckpunkte in der „New urban Agenda“ der United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development in Quito festgelegt.[1]
Kulturerbe in der Neuen Stadt
In dieser Agenda findet sich auch ein sehr schlicht ausgearbeitetes Bekenntnis zum Schutz der Kulturdenkmale. Doch wie realistisch ist der Schutz des Kulturerbes? Langfristig ist allein durch den Anstieg des Meeresspiegels jede fünfte UNESCO-Welterbestätte bedroht.[2] Große Teile von Küstenstädten werden unter dem Meeresspiegel liegen. Der Siedlungsdruck auf andere Städte wird steigen, nicht nur wegen des Anstiegs des Meeresspiegels. Was bedeutet das für deren Kulturerbe? Was bedeutet die Klimamigration für die europäischen Altstädte? Werden sie musealisiert, ontologisch aus ihrer Funktion und ihrer Geschichtlichkeit und Veränderungsprozessen herausgenommen, wider das Vergessen der Geschichte „eingefroren“? Werden sie transformiert bis hin zu ihrem Verlust als materielle Quellen der Vergangenheit? Werden die Städte ihre historische Authentizität verlieren?
Das bauliche Kulturerbe der Städte wird durch die Veränderungsprozesse der gegenwärtigen urbanen Herausforderungen nicht weiterhin in der bestehenden Form auf der Charta von Venedig gründend geschützt werden können. Denkmalschutz und Denkmalpflege stehen vor der Aufgabe eine Revision ihrer bisherigen Positionen einzuleiten, denn was bedeutet in Zukunft das Prädikat „historisch wertvoll“? Welche Kategorien, welche neuen Bewertungswerkzeuge lassen sich entwickeln und anwenden, um das Kulturerbe in Nachhaltigkeitsüberlegungen tatsächlich nachhaltig einzubeziehen? Wie ließe sich in der Neuen Stadt kulturelle Nachhaltigkeit definieren?
Historischer Wert – Alois Riegl im 21. Jahrhundert
Auf diese Fragen antwortet das vorliegende Buchprojekt. Es nimmt seinen Ausgang bei Alois Riegl, einem der einflussreichsten Kunst- und Denkmaltheoretiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie Vertreter der kunsthistorischen Wiener Schule. Riegls universalistischer Denkmalbegriff und seine Kategorien der Gegenwartswerte und Erinnerungswerte des Denkmals erfahren in dem vorliegenden Buchprojekt eine Reflexion an den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der New Urban Agenda. Neben Riegels Gebrauchswert und relativen Kunstwert sowie historischen Wert und Alterswert wird hier der historische Wert differenziert aufgeschlüsselt und um die Kategorie der historischen Authentizitäten als ästhetische Kategorie sowie als Zuschreibungsnarrativ in Form von historischen Authentisierungskonzepten erweitert. Mit dieser aufgefächerten Kategoriensystematik lassen sich verschiedenste Phänomene des Umgangs mit Kulturerbe erfassen, klassifizieren und taxieren, die Alois Riegl noch nicht analysieren musste, weil sie von der sozialen Konstruktion der Werte um 1900 noch nicht im Blickfeld stehen konnten.
Eine Reihe von „Werkzeugen“ zur Analyse von Kulturerbe werden in diesem Buchprojekt vorgestellt. Kulturerbe lässt sich mit ihnen nach ihrem Grad der „Echtheit“ einordnen, beantwortet also Authentizitätsstufen jenseits des Glaubens an das „Original“.
Es richtet sich nicht nur als Theorie- und Methodenkonstrukt an die Geisteswissenschaften, sondern ganz konkret an die Praxis des Umgangs mit Kulturerbe: Architekten, Ingenieure, Denkmalschützer und -pfleger, Kulturpolitiker und alle, die mit Interesse Kulturerbe betrachten und dessen Wert bemessen wollen.
[1] http://habitat3.org/documents-and-archive/
[2] Ben Marzeion und Anders Levermann: Loss of cultural world heritage and currently inhabited places to sea-level rise, https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/9/3/034001