Rainer Kaiser: Open Connection

Rainer Kaiser: Open Connection – ein Versuch über das Unsichtbare

Rede zur Ausstellungseröffnung in der Galerie Süßkind, Augsburg am 10. November 2022

von Stefan Lindl

Wenn ich meine Augen öffne, dann sehe ich durchaus recht viel. Es ist lediglich nicht genug, um das, was ich nicht sehe, auch nur annähernd zu erfassen. Das, was ich nicht sehe, muss ich mir denken, muss es hervorholen, es heben aus Räumen des Unbewussten. Das unsichtbare Unbewusste am Sichtbaren verfügt über eine open connection, eine offene Verbindung. Lassen wir uns auf diese Verbindung ein, verschwimmt mit der Gegenwart die Vergangenheit und die Zukunft. Alle Zeitkonzepte, die wir vermeinen zu kennen, sind dahin, wenn wir versuchen, mehr zu sehen, als wir sehen können, wenn wir erdenken, was wir nicht sehen können, denn alles geht auf in dem Hier und Jetzt. 

Ich könnte aufgehen in der Gegenwart und fühle mich dann einfach nur sehr wohl. Und doch gäbe es mehr, wenn ich denn wollte. Es gibt sicherlich unzählige Geschichten, die zu den Werken von Rainer Kaiser geführt haben, noch viel mehr Anekdoten und Lebensereignisse, die ihn zu dem Menschen und Künstler werden ließen, der er ist. Ich kenne all diese Erzählungen nicht, kann mir aber denken, dass sie erzählbar wären. So verhält es sich auch mit seiner Kunst. Sie ist nicht einfach so, wie ich sie sehe. Sie trägt noch viel mehr Unsichtbares in sich. An diesem Unsichtbaren möchte ich mich in den nächsten Minuten versuchen. 

Rainer Kaiser lebt, arbeitet und lehrt in Augsburg. Die Stadt zwischen Lech und Wertach darf getrost als sein Lebens- und Schaffensmittelpunkt genannt werden. Hier hat er auch studiert und grundlegende Techniken gelernt, die er bis heute nutzt. Wie sehr diese Arbeitstechniken mit der Stadt und einem Jahrtausend seiner langen Geschichte in einem offenen Austausch, einer offenen Verbindung, einer open connection stehen, wird eben erst dann deutlich, wenn wir dieses unsichtbare Unbewusste des Werks von Rainer Kaiser hervorholen. 

Am Anfang waren das Schaf, blauen Blüten des Faserflachs und natürlich Augsburg. Das Schaf zog in seiner Herde über die Heideflächen entlang des Lechs südlich von Augsburg und tat, was Schafe tun. Es fraß und half die typische Heidelandschaft zu erhalten, die es heute kaum noch gibt. Seine geschorene Wolle diente den Augsburger Webern, die im Mittelalter bereits die Stadt zu einer Textilstadt machten. Schafe gab es genug, Heide und Weidewirtschaft ebenfalls, so auch die Weber. Sie verarbeiteten aber nicht nur Wolle, sondern auch den Flachs ab dem 13. Jahrhundert, aber dann, besonders ab dem 14. Jahrhundert, kam die Baumwolle hinzu. Ravensburg, Biberach, Ulm, Regensburg und Augsburg wurden mit ihr reich durch die Barchentherstellung, einem Mischtextil bestehend aus Baumwoll-Schuss und Leinen-Kette. Baumwolle war zwar ein gutes Material, um Textilien herzustellen, aber es ließ sich gegenüber Wolle, Flachs und Leinen sehr schwer wegen der kurzen Faser zu Garn verarbeiten. Teurer als Baumwolle ging es nicht. Barchent war ein Übergangsprodukt. Noch ein wenig Leinen, aber schon ein wenig Kattun, also Baumwolle. Diese Augsburger Textilgeschichte scheint eine Themaverfehlung zu sein, denn Rainer Kaiser bemalt keine Textilien, keine Leinwände, keine T-Shirts. Und doch hat die Textilwirtschaft etwas Entscheidendes mit dem Unbewussten zu tun. Denn Barchent konnte sehr gut bedruckt werden, ebenso wie Baumwolle. Farbige, gemusterte Stoffe waren begehrt. Augsburg konnte sie liefern, nicht nur, weil es die Weber hatte, sondern weil es andere Techniken beherrschte. 

In Augsburg lebten besonders in der Frühen Neuzeit Silber- und Goldschmiede, deren Werke begehrt waren und weite Verbreitung in Mitteleuropa fanden. Andreas Thelott und Johannes Bartermann sind zwei von diesen in Augsburg tätigen Silberarbeitern, die eine Technik zur Metallbearbeitung kannten, die für den farbigen Bedruck von Textilien wichtig wurden: das Gravieren. Aus der Gravur entwickelte sich der Kupferstich und die Radierung. In Frankreich heißt der Kupferdruck noch heute „gravure“. Kupferstecher waren anfangs Goldschmiede. Die Stadtgesellschaft hielt diese Sepzialisten bereit. In ihrem Drang zu gestalten und zu wirtschaften ermöglichten sie die Techniken für den Textildruck, aber auch für die Vervielfältigung von bildlichen Druckerzeugnissen. Es ist nicht erstaunlich, dass Augsburg bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine der führenden Städte der Verleger von gedruckten Büchern, aber auch der Flugschriften und Vorformen der Zeitungen war. Den deutschsprachigen Buchdruck dominierte Augsburg über Jahrhunderte. 

Augsburg war in vielfacher Hinsicht eine Stadt des Drucks gewesen. Die Einwohner der Stadt druckten Illustrationen für Bücher und Flugschriften, sie bedruckten Barchent und Kattun, weil sie so viele exzellente Silber- und Goldschmiede hatten, die die Gravier-Techniken für die Druckplatten und Walzen bereitstellen konnten. Im 19. Jahrhundert endete die Hochzeit der Verlegerstadt. München und Stuttgart übernahmen die Position, die Augsburg zuvor bis ca. 1800 eingenommen hatte. Doch eines wurde weitergedruckt: Kattun, also Baumwollstoffe. Bis in das 20. Jahrhundert mit der NAK, auf deren Gelände heute ein Einkaufszentrum steht, war Augsburg mit dem Textildruck verbunden. 

Drucktechniken wurden weiter tradiert in der Hochschule Augsburg. Rainer Kaisers Werk gründet letztlich auf diesen Drucktechniken, die sich über viele Hundert Jahre in Augsburg entwickelt hatten. 

Er verwendet gewachstes Papier und graviert beziehungsweise ritzt zeichnend in das Wachs. Dann trägt er Ölfarbe auf verwischt und wischt sie, verdichtet, entfernt Farbe, bis für ihn ein optimaler Zustand eingetreten ist. Die Ölfarbe schenkt ihm Zeit für die Gestaltung, weil sie lange Zeit benötigt, bis sie getrocknet ist. Sie lässt sich formen, lässt sich über Tage gestalten. All das beruht auf einer intensiven Vorbereitung in zahlreichen Skizzen, die in die engere Wahl gezogen oder verworfen werden. Jedes Werk beruht auf einem langen Vorlauf und einem langen Nachlauf. Doch nicht genug damit. Unter dem gewachsten Papier findet sich eine weitere Schicht Papier, auf dem sich Formen finden, die durch das gewachste Papier durchscheinen. Sie ziehen eine weitere Dimension ein, eine weitere Schicht, die das Werk aufladen. Sie muss entdeckt werden, ist ein wenig wie dieser Text, der versucht, genau diese Zweischichtigkeit nachzuvollziehen. Im Vordergrund das Werk von Rainer Kaiser, im Hintergrund die historischen Dimensionen dieses Werks, die man apperzeptiv, also hinzudenken, erfahren kann. Hier reicht die Perzeption, die Wahrnehmung, nicht aus. Die Vorlage liefert dafür Kaisers Werk: Es liegt ein Unbewusstes hinter der offensichtlichen Gestaltung. Dahinter finden sich die unsichtbaren Skizzen, viele Versuche, Gedanken, die niemand sieht. Die zweite Schicht im Hintergrund könnte sie symbolisieren. Es ist eben immer viel mehr als nur das Wahrnehmbare. 

Immer besteht eine open connection zu Dingen, für die wir offen sein können, wenn wir denn wollten. Rainer Kaiser verweist darauf, ohne es konkret anzusprechen oder auszuformulieren. Er zeichnet das Unsichtbare.

Mit der Trope der Ironie ist die Verbindung zur Drucktechnik ausgestattet. Während der Kupferdruck und das Radieren sich so trefflich zu Vervielfältigung eignen, erschafft Rainer Kaiser einzigartige Kunstwerke. In dieser Weiterentwicklung der Drucktechniken offenbart sich selbst wieder ein Merkmal von Kunst, die Reflexion des Wahrnehmens und Gestaltens selbst.

Vielschichtiger geht es kaum, wenn wir nur die open connection zum Unsichtbaren und Unbewussten in dem Werk Rainer Kaisers zulassen. 

Die faszinierende Ausstellung Rainer Kaisers ist noch bis zum 28. Januar 2023 in der Galerie Süßkind, Dominikanergasse 7, Augsburg zu sehen.

Nachverschriftlichung der frei gehaltenen Laudatio vom 10. November 2022 von Stefan Lindl.

Beitragsfoto: Ausschnitt aus Rainer Kaisers Werk, ausgestellt in der Galerie Süßkind.

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