Das Zeitalter des essentialistischen Konstruktivismus
Es geht nicht mehr um die Ermächtigung von Diskurspositionen, es geht momentan nur um die essentielle Abgrenzung der Gruppen und deren Parolität in einem sprachlichen Gewand des Konstruktivismus. Ein Widerspruch, oder: das Denken der additiven Dissonanz.
Stefan Lindl
Nun bin ich wirklich irritiert. Ich blicke zurück auf das Jahr 2022 und bin verwundert über die Erfahrungen als Ally für Gendergerechtigkeit und als reflektierender Forscher der Woke-Bewegung. Meine Irritation liegt wahrscheinlich an meinem Alter, an meiner Hautfarbe, an meinem Geschlecht, an meiner Sozialisation. Aufgewachsen bin ich in einer Zeit, in der es hieß, werdet aktiv gegen Unrecht, gegen Ungerechtigkeit, gegen Diskriminierung, gegen Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus, gegen Homophobie und Misogynie, Gewalt, Krieg und atomare Abschreckung. In meinem Denken bin ich französisch-postmodern sozialisiert. Ich weiß sehr genau, dass bestimmte Diskurspositionen Macht benötigen, um sie wirken zu sehen. Das zumindest ist mein Weltbild. Deswegen benötigen Diskurspositionen ein empowerment. Das geht vermittels Protestformen, das geht mit zivilem Ungehorsam, das geht durch Allianzen und Netzwerke oder einfach mit Hilfe von Zufall, Angst und Not. Kurzum: Wie eine Diskursposition mächtige wird, hängt von vielem ab. Beispielsweise gab es in den 1980er Jahren die Antiatomkraftbewegung. Ihre Diskursposition „Atomkraft, nein Danke!“ wurde nicht durch Tschernobyl übermächtig, nicht durch die Proteste, sondern durch Fukushima. Erst in der Folge des März 2011 beschloss der Bundestag, das Ende der Atomkraft. Erst dann wurde die Diskursposition so mächtig, dass die Antiatomkraftbewegung siegte. Es hat lange gedauert, aber dann erreichte sie ihr Ziel.
Der Ermächtigung durch Angst und Not gehen immer die anderen Ermächtigungsstrategien voraus. Beispielsweise vertrat ich die Ermächtigungsstrategie Netzwerk und Publizistik. In dieser wie auch in den anderen Strategien konnten sich alle Menschen für bestimmte Diskurse beteiligen. Als Mann konnte ich für Frauenrechte kämpfen, aber auch für Antikolonialismus zusammen mit Claude Kalume Mukadi, Prince d’Abomey. Das alles war möglich gewesen. Ganz einfach aus dem Grund, weil wir das Ziel hatten, Diskurse zu leiten und Positionen zu mächtigen Positionen werden zu lassen. Alles war ein Werk der Sprache und damit sozialer Konstruktion, die interessengeleitet waren. Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Alter spielten eine sehr untergeordnete Rolle. Was aber wirklich zählte, war die gemeinsame Arbeit an einem Ziel und der Habitus der Offenheit. Wichtig war dabei immer, dass sich alle ihrer Positionen bewusst waren. Peinlich wurde es, wenn Aktivist*innen Identität austauschten mit dem, für was sie kämpften. Also wenn sich Weiße für BIPoC hielten, Männer für Frauen oder Fleischesser*innen für Veganer*innen. Es war die oberste Pflicht gewesen, sich der Position bewusst zu sein, aus der gesprochen wird. Respekt bedeutete selbstreflektiert die Komplexität des Kolonialismus mitzudenken, um antikolonialistisch zu agieren. Alle, die sich dem aussetzten, wandelten auf einem Grad, der nun wirklich nicht einfach zu begehen war. Stets drohte der Absturz in die positive Diskriminierung hinein, die Arschbombe in einen Fettnapf, der peinliche Fauxpas. Aber trotzdem dienten selbst die unbeholfensten und unfreiwilligsten Sprünge in die tiefsten Fettnäpfe dazu, den Diskurs voranzubringen.
Heute funktionieren die Diskurse nicht mehr im Bewusstsein und aus der Weltsicht des linguistic turns und des Konstruktivismus. Zumindest in Mitteleuropa, aber auch in vielen anderen Gesellschaften, wird nicht mehr in der Trope der Ironie gedacht: Wir sind zwar nicht BIPoC, wir sind weiß, aber wir kämpfen für sie in Form des Diskurses. Oder: Ich als Mann kämpfe für die Rechte der Frauen, weil ich über bestimmte wissenschaftliche Werkzeuge verfüge, die mir dies erlauben, obwohl ich Mann bin, um in den Diskurs einzugreifen.
Das geht heute nicht mehr. Heute wird essentialistisch gedacht, ohne die Trope der Ironie. Für andere zu sprechen ist Anmaßung und Aneignung, ist ein peinlicher Austausch von Identität auf mangelnder Grundlage. Sogar als feindlicher Eingriff wird mein Agieren für andere Gruppen gesehen, weil ich doch beispielsweise Mann und damit diskriminierender Täter bin und selbst kaum Diskriminierung erfahren habe. Ich bin das sicherlich auch, weil ich in ein patriarchalisches System hineingeboren wurde. Aber ich kann individuell auch dagegenhalten, ich habe alles versucht, diese systemischen Funktionen zu durchbrechen – in den mir möglichen Rahmen. Ich verortete mich deswegen auf einer guten Seite. Doch heute wird mir vorgeworfen, ich würde gerade durch meine Aktivität für Gruppen, zu denen ich nicht gehöre, anmaßend und übergriffig agieren.
Nun bin ich also zurückgeworfen auf mich selbst und darf nur noch über meine Belange reden. Alles andere ist illegitime Aneignung. Früher, in der alten Welt, wäre ich, hätte ich für mich gesprochen, als befangen verurteilt worden. Meine Macht für mich selbst zu kämpfen, hätte scheitern müssen an der Tatsache, dass ich für mich kämpfe. Das Befangenheits-Argument diente als ein Machtinstrument, mit dem sich Identitäten und das Selbst diskursive kontrollieren ließ. Das hat Vor- und Nachteile, weil Befangenheit diskreditierend eingesetzt werden konnte. So behielt ein Anwalts- oder Repräsentationsdenken die Oberhand über die Herrschaft. Sprechen müssen und sollten andere für die Sache einer Person, aber nicht die Person selbst. Das Sprechen für andere, das lange Zeit eine Selbstverständlichkeit war, gilt nicht mehr. Es wird als Anmaßung und Machtausübung verstanden. In der Tat kann das Sprechen als Machtinstrument eingesetzt werden. Aber dies zu verallgemeinern, halte ich für eine absolut gefährliche und auch simple Position, die ich aber auch durchaus nachvollziehbar und sogar legitim als Protestform finde. Es geht um Sprechverbote für vermeintliche weiße Diskriminierer, männlich. Sie dürfen nicht in die Gruppe, über die sie sprechen wollen, sie dürfen nicht über sie sprechen, nicht über sie denken. Dies ist ein gespiegeltes empowerment: Es werden dieselben Exklusionsmechanismen genutzt, die diese diskriminierten Gruppen erfahren. Sie üben Macht aus. Diskriminierende (auch vermeintlich Diskriminierende) diskriminieren, um ihnen die Mechanismen der Diskriminierung und das Gefühl des Diskriminiertseins zu vermitteln, ist eine zweifelsohne sinnvolle Strategie, gegen die nichts einzuwenden wäre, würde dabei nicht universal diskriminiert werden.
Diese Form der geschlossenen Gruppen, die Ausgrenzung aller, die nicht essentialistische gruppenrelevante Merkmale tragen, kenne ich seit meinen ersten Erfahrungen mit sozialen nichtfamiliären Strukturen aus dem Kindergarten, sie verschwanden auch in der Schule nicht, selbst oder gerade an der Universität wird völlig selbstverständlich so agiert, ganz besonders dort, auch in der Politik. Eigentlich überall. Abgeschlossene Gruppen handeln unter sich ihre Belange aus, deswegen sind sie geschlossen. Also: Alles verständlich, akzeptabel und nachvollziehbar. Exklusion und Macht gehören zusammen. Wer ausgeschlossen wird, fühlt Ohnmacht. Wer in die ausschließende Gruppe inkludiert ist, fühlt die Macht der Exklusion, um bestimmte Menschen fernzuhalten, weil sie keine Gruppenmerkmale eignen. Darin steckt Identität und Identität hegt das Gefühl von Macht und Ermächtigung durch Legitimierungsmerkmale.
Allies – die notwendigen Moderator*innen
Ich zeige dafür großes Verständnis. Doch es gibt die Position und die Funktion der woken Allies. Ihre Position sollte gestärkt werden. Die Verbündeten sind die Bindeglieder der abgeschlossenen Gruppen, für eine friedliche und bessere Gesellschaft, die letztlich woke anvisiert wird, werden sie eine Schlüsselfunktion einnehmen. Sie werden die Moderation übernehmen. Wenn das nicht geschieht, wenn die Exklusion weitergeführt wird und restriktiv gehandhabt wird, dann sehe ich in der Tat einige gewaltige Schwierigkeiten auf uns zukommen.
Repräsentative Demokratie kann mit dieser exklusiv gedachten Argumentationsfigur der Exklusion in das Museum für ausgediente Regierungsstile in eine schlecht ausgeleuchtete Vitrine gestellt werden. Intellektuelle Arbeit wird verunmöglicht. Denken über die Grenzen? – Hat keine Chance mehr. Kreativität, die auf Spielen beruht, die bestimmte Regeln und Herangehensweisen von einem Bereich in einen anderen überführen kann, wäre illegitime Aneignung. Die Vielfalt des Diskurses, die gerade darin besteht, dass viele Menschen mitreden und Positionen vortragen, wird beschränkt. Ich kann gut und gerne verstehen, warum das getan wird. Aber ich verstehe den Nutzen der Konsequenzen nicht. Es ist schlicht und ergreifend sinnlos und gefährlich den Reichtum von Vielfalt für den Erhalt der Einfalt von Gruppengrenzen aufzugeben, sage ich aus meiner Perspektive. Identität benötigt die Alterität, den Blick und die Sichtweise der anderen, die nicht zur Gruppe gehören, um sich konstituieren zu können.
Ich verstand mich seit meiner Jugend als Moderator, als Vermittler von Positionen. Heute bin ich der illegitime anmaßende Aneigner von Positionen, die nicht meine sind, weil ich nicht zu der Gruppe gehöre, deren Positionen ich vermitteln möchte. Ich bin der schräge Ally mit guten Absichten und doch der privilegierte, der niemals Diskriminierung erfahren hat. Ist das so?
In der woke-culture kommt ein Essentialsimus zum Tragen, der bemerkenswert ist. Er zielt darauf ab, zu diskriminieren. Wer nicht die Gruppeneigenschaften trägt, darf keine Position innerhalb der Gruppe annehmen. Ich weiß nicht, wie das sonst zu nennen wäre, wenn nicht Diskriminierung. Darin steckt natürlich die Ermächtigung der Diskriminierten mit denselben Mitteln der alten weißen Männer, um nun die alten weißen Männer zu diskriminieren. Das erscheint mir nur allzu legitim zu sein, jemandem eine Diskriminierungserfahrung zuteil werden zu lassen, der vermeintlich niemals wegen seiner Hautfarbe oder seines Geschlechts diskriminiert wurde. Hautfarbe und Geschlecht gelten als unabänderliche Merkmale, aufgrund deren Diskriminierung erfolgt. Das ist purer Essentialismus. Wieso, muss ich fragen, sollte Hautfarbe und Geschlecht als unabänderlich gelten? Essentialismus steht gegen Konstruktivismus, mit dem ich in meinem postmodernen Denken großgeworden bin. Allein deswegen, weil ich nicht bereit bin – Altersstarrsinn – essentialistische Positionen einzunehmen, mache ich mich gerne angreifbar. Es ist das Ethos dieser Zeit identitätspolitisch zu agieren. Als Postmoderner kann ich diese Position nicht einnehmen. Sie ist mir zu starr zu unveränderlich, zu weit entfernt von meinem Denken. Tröstlich weiß ich als Historiker: Auch das geht vorüber. Irgendwann wird sich die Exklusion als vulnerabler Punkt herausstellen, an dem sich die woke-culture überlebt haben wird.
Die inklusive Offenheit der Sprache und die Exklusion
Was zu akzeptieren ist, ist zu akzeptieren. In besonderer Weise irritiert mich etwas anderes. Es mag sein, dass auch dies kein Widerspruch ist, sondern einfach zu einem nonbinären Zeitalter dazugehört. Meine Irritation liegt in der Sprache der Gruppen, die postkolonialistisch, antirassistisch, neufeministisch agieren. Sie zeichnet sich durch gendersensible Merkmale aus. Diese Sprache irritiert mich nicht als Sprache, dazu habe ich sie zu sehr durchdrungen und verstehe ihre Grundlagen. Deswegen vertrete ich sie vehement. Es irritiert mich, dass identitätspolitisches Agieren mit gendersensibler Sprache eine Mariage eingeht. Sie entstammt dem Denken, in dem ich sozialisiert bin. Sie atmet den linguistic turn. Gendersensible Sprache geht im Ansatz auf John Langshaw Austin, Michel Foucault und Judith Butler zurück. Butler vereinte Austin als Begründer der Sprechakttheorie und Foucaults Diskurstheorie. Das biologische Geschlecht entkleidete Butler von seinem Essentialismus. Es sei nur ein Ideal, dessen Materialisierung erzwungen sei aufgrund von „höchst regulierten Praktiken“. „Es ist nicht eine schlichte Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein Prozeß, bei dem regulierende Normen das »biologische Geschlecht« materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene ständige Wiederholung jener Normen erzielen.“ Das muss niemanden einleuchten. In meinen Veranstaltungen an der Universität Augsburg habe ich in den letzten Jahren erfahren, dass Butler Student*innen nicht mehr irritiert, sondern ihnen völlig logisch erscheint. Das war vor zehn Jahren noch anders. Gestandene Foucaultanhänger*innen wehrten sich damals gegen diese Auslegung diskursiver Praktiken, separierten das biologische Geschlecht vom Diskurs, sprachen dem Diskurs nicht die Möglichkeit und die Macht zu, so tief in die biologischen Fakten eingreifen zu können. Foucaults Diskurs und die Produktion von Materie durften nicht so weit gehen. Doch für die neuen Jahrgänge der Student*innen sind die Worte Judith Butlers klar, deutlich und wahr. Die Sprache, in ihr und mit ihr vollziehen sich diese regulierenden Praktiken, erschafft Identitäten, nichts ist abgeschlossen, alles lässt sich durch Praktiken normieren. Identitäten entstehen also durch Sprache.
Genau an dieser Stelle bricht mein Unverständnis hervor. Wie ist es möglich, gendersensible Sprache und den Gender-Stern zu verwenden, die Offenheit des Diskurses hervorzukehren, andererseits Menschen aus Gruppenidentitäten auszuschließen, weil identitätspolitisch erfasste Gruppen auf einer essentialistischen Grundlage festgestellt werden. Ich kann diese verschiedenen Auffassungen von Essentialismus und Konstruktivismus, die in einen Topf geworfen werden, einfach nicht nachvollziehen.
Nehme ich gendersensible Sprache ernst, dann bedeutet das: die Sprache kann alles, sie kann Berge erschaffen und sie obendrein versetzen. Biologisches Geschlecht wird durch Sprechakte vollzogen. Wenn ich diese Aussagen als Wahrheit akzeptiere, dann muss diese Wahrheit auch dafür gelten, dass ich als alter weißer Mann – eine Zuschreibung höchst regulierender Praktiken –, mich als Angehöriger der BIPoC erklären kann, wenn ich die normierenden Praktiken sprachlich verändere. Als postmodern denkender Mensch erscheint mir das als absolut einleuchtend und möglich. Wenn ich nonbinär oder eine Frau werden kann, dann kann ich auch coloured werden. Und der Umkehrschluss: Wenn ich nicht nonbinär oder eine Frau werden kann, weil mein biologisches Geschlecht mich in essentialistische Gefangenheit wirft, dann kann ich auch nicht BIPoC werden. Doch bei den Gruppen der woke-culture geht beides: Ich kann nonbinär oder eine Frau werden, kann mein biologisches Geschlecht bestimmen, aber ich kann nicht mein biologisches Geschlecht ändern, denn das teilt mich doch in ein binäres System ein.
So zumindest würde ich diese Positionen verstehen, die meines Erachtens nicht zusammenpassen, wenn ich widerspruchsfrei an die gendersensible Sprache herangehe. Sie kann aus dieser Perspektive nicht in wokem Handeln verwendet werden. Aber auch dieses Urteil ist aufgebaut auf einer Perspektive des Dogmas der Widerspruchsfreiheit. Vielleicht müsste ich additiver denken lernen. Was hier gut ist, muss dort nicht Pflicht sein und kann trotzdem problemlos zusammen existieren. Widersprechendes Denken muss wohl eher als koexistierend verstanden werden. Scheinbar grundlegende Muster gelten nur für bestimmte deutlich abgegrenzte Bereiche und können nicht für alle Bereiche als grundlegend akzeptiert werden. Wie stark und mächtig sie allerdings dann noch sind, das ist eine andere Frage.